Nur ein Tropfen
Nur ein Tropfen

Nur ein Tropfen

Wie lange wir schon unterwegs sind? Ich weiß es nicht. Jeder Tag fühlt sich gleich an. Unruhe und Angst vermischen sich mit Hoffnung und den Gedanken an unsere mögliche Zukunft. Wie viele von uns schon aufgegeben haben? Ich habe nicht mitgezählt. Aber das ist egal, denn hier ist das Einzige, was zählt, das eigene Überleben. Ob ich wirklich noch daran glaube, jemals anzukommen? Ja, denn ich bestimme das Ende meiner Reise.  

Ich betrachte die weite Ebene, die sich vor meinen Augen erstreckt. Dunkelgraue Wolken ziehen schon seit dem Mittag über das endlose, blaue Wasser. Unruhig, genau wie alle anderen, schaue ich den Wellen zu, wie sie immer mehr an Masse gewinnen und unser kleines Boot immer höher zum schaukeln bringen. Kalte Windböen fahren mir über die Haut, es wir immer schwieriger, mein Gleichgewicht zu halten. Auch andere haben sich schon einen Platz gesucht, ihre Kapuzen übergezogen und sind in ihre Träume verschwunden. Das machen viele so, um der Realität zu entgehen. Der erste, grelle Blitz beleuchtet das Boot und wenig später lässt der erste, dunkle Donner die leisen Gespräche verstummen. Ich versuche mich zu beruhigen, indem ich die Sekunden zwischen Blitz und Donner zähle, wie es meine Mutter immer gemacht hatte. Sechs Sekunden. Ich sehe in die Augen von den Personen, die mit mir auf dem Boot stehen. Ich kenne sie nicht, aber ich verbinde viel mit ihnen. Einer schüttelt langsam den Kopf. Ich weiß, dass er auch gezählt hat. Sechs Sekunden, dass ist wenig. Ich versuche, mich an den Hoffnungsschimmer zu erinnern, den ich hatte, als ich die erste Nacht überstanden hatte. Doch so sehr ich mich bemühe, ich spüre nur noch dunkle Leere in mir. Sie spiegelt sich wieder, in den Augen von jedem von uns.  

Mein Zeitgefühl sagt mir, dass es etwa 21 Uhr sein müsste. Die meisten von uns schlafen schon, ich bleibe wach. Ich fühle mich wie in einem Albtraum, jede Welle ist höher, bedrohlicher als die letzte. Sie versuchen mich zu verschlingen, und vielleicht schaffen sie es auch bald. Mein Blick schweift umher, zwei, drei Augenpaare erwidern meinen Blick, die restlichen sind geschlossen. Auch meine  Augen werden immer schwerer, aber ich zwinge mich, sie offen zu halten. Meine Gedanken schweifen immer weiter ab, deshalb versuche ich mich auf einen Punkt in der Ferne zu konzentrieren. Die Wellen erschweren meine Sicht und die Wassertropfen, die sich auf meinen Wimpern gesammelt haben, lassen diese, wie gewollt, immer schwerer werden. Jedes Blinzeln lässt einen Tropfen runterrollen, jedes Blinzeln lässt einen Nachkommen. Die Pausen werden immer länger, in denen sich meine Augen öffnen. Gedanken verschwimmen mit Realität und Traum. Noch ein paar mit Minuten, sage ich mir. Oder Sekunden. Ein letztes Mal schaue ich auf die schlafenden Silhouetten und die am Boot brechenden, Wellen auf die Blitze, die das Wasser erhellen und… auf das Licht, das zeitweise in der dunklen Ferne auftaucht. Hellwach bin ich nun und frage mich, ob es das Licht ist, von dem wir alle geträumt haben. 

Wie lange wir schon unterwegs sind? Endlich weiß ich es. Drei Wochen und siebzehn Tage. Es ist der 24. Dezember. Wie viele von uns schon aufgegeben haben? Ich habe mitgezählt, weil jede weitere Person mich in meiner Hoffnung geschwächt hat. Aber das ist jetzt egal, denn wir sind alle in Sicherheit. Ob ich wirklich noch daran glaube anzukommen? Ja, und meine Reise ist noch lange nicht vorbei. 

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