Der Kiosk
Der Kiosk

Der Kiosk

Ich hielt den Brief in meiner Hand. Er war von meiner besten und einzigen Freundin. Wir schickten uns jeden Monat einen Brief, weil wir uns nicht wirklich oft sahen. Sie wohnt in Washington und ich nun mal in Essen. Ein Flugticket konnte sich keine unserer Familien wirklich leisten. Meine schon gar nicht. Mary hatte mich bisher zweimal besucht. Ich war allerdings noch nie in Washington gewesen. Mein größter Wunsch war es, sie einmal im Winter in Washington zu besuche, denn ich hatte noch nie richtigen Schnee gesehen und in Washington war laut Mary und ihren Briefen sehr sehr viel Schnee. Es wäre so toll, wenn ich einmal eine weiße Weihnacht erleben würde.  Eine richtige weiße Weihnacht. Hier bei mir zuhause fiel immer nur Schneeregen.  

Aber mein Traum von weißer Weihnacht würde ein Traum bleiben, dachte ich. Meine Eltern arbeiteten hart, aber sie hatten trotzdem Geldprobleme. Ich hörte sie oft, wie sie über Geld stritten oder wie sie diskutierten, was sie kaufen konnten.  

Meine Mutter arbeitet in einem Friseursalon in der Bahnhofsunterführung am Limbeckerplatz  und mein Vater ist der Besitzer eines kleinen Kiosks am Frohnhauser Markt in der Nähe unserer Wohnung.  Der Kiosk war einer meiner Lieblingsorte. Jeden Tag ging ich nach der Schule zu meinem Vater und stöberte ein bisschen im Laden. Wenn meine Mitschüler mal wieder gemein zu mir waren, verzog ich mich immer in die winzige Sitzecke des Kiosks.  

In jedem Brief, den ich Mary schickte (was mich jedesmal mein ganzes Taschengeld kostete), erzählte ich ihr von dem Laden.  

Lächelnd dachte ich an den Kiosk und öffnete dabei Marys Brief, bis mich die warme Stimme meiner Mutter aus meinen Gedanken riss. „Julia komm mal bitte her. Papa und ich müssen mit dir reden.“, rief sie und mir wurde flau im Magen. Angestellt hatte ich zwar nichts, aber es ist trotzdem immer komisch, wenn die Eltern einen rufen, um zu reden.  

Irritiert stand ich auf und ging in die Küche, wo meine Eltern schon auf mich warteten. Sie schauten mich beide betrübt an und warteten, bis ich mich hingesetzt hatte. Papa seufzte und sagte dann: „Schatz es tut mir leid, ich hänge auch sehr an meinem kleinen Laden, aber ich muss den Kiosk leider verkaufen. Ich verdiene einfach nicht mehr genug, weil die großen Supermärkte alles viel billiger verkaufen können und meine Kunden dann alle da einkaufen. Mama kann uns von ihrem Gehalt nicht allein über Wasser halten, deshalb muss ich einen neuen Job suchen.“  

Fassungslos schaute ich ihn an, mit einem dicken Klos im Hals und Tränen in den Augen. Meine Eltern umarmten mich und Mama wischte mir eine Träne von der Wange. Dann ließen sie mich allein. 

Traurig stand ich auf und ging in den Flur. Aus Papas Jacke schnappte ich mir den Schlüssel vom Kiosk. Schnell schrieb ich meinen Eltern eine Notiz, zog meine Jacke an, holte Marys Brief und ging aus der Wohnung, rüber zum Kiosk. Dort verkroch ich mich in die Sitzecke und las endlich Marys Brief. Sie erzählte, dass schon der erste Schnee gefallen war und dass sie kältefrei hatte.  

Mit meinen Gedanken bei Mary und dem schön verschneiten Washington, schlief ich langsam ein. 

Am nächsten Morgen, wurde ich von meinem Handyklingelton geweckt. Verschlafen nahm ich ab und murmelte eine Begrüßung. Am anderen Ende hörte ich die Stimme meiner Mutter. Sie klang aufgewühlt und freudig. Müde fragte ich: „Warum rufst du mich an einem Samstagmorgen an?“ 

Mama ignorierte meinen genervten Tonfall und sagte: „Schatz, ich habe gute Nachrichten, die dich bestimmt wieder aufheitern werden. Ich habe gerade eine neue Stelle angeboten bekommen. Eine nette Frau hat mich gerade besucht und mir gesagt, dass sie mich gestern gesehen hat, wie ich eine Kundin frisiert habe und das sie findet, dass ich großes Talent habe. Sie hat mir einen Job als leitende Angestellte in ihrem exklusiven Friseursalon in Bredeney angeboten. Ich würde dreifach soviel verdienen wie jetzt. Das hieße, Papa kann den Kiosk behalten, Juli!“. Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was meine Mutter mir gerade gesagt hatte, aber als mir klar wurde, dass der Kiosk nicht verkauft werden würde, sprang ich auf und wollte am liebsten schreien.  

Mama lachte und sagte dann: „Papa kommt gleich, um den Laden aufzumachen. Dann könnt ihr feiern.“. Mit einem breiten Lächeln im Gesicht verabschiedete ich mich. Unter dem Tresen zog ich ein Stück Papier raus und schnappte mir einen Stift. Dann fing ich an, Mary alles aufzuschreiben. In der Zwischenzeit kam Papa und wir umarmten uns ganz lange. 

Zwei Wochen später, am 19. Dezember riefen mich meine Eltern schon wieder zu sich. Aber diesmal wollten sie nicht reden. Mama hatte einen Briefumschlag in der Hand, auf dem in ihrer verschnörkelten Handschrift mein Name stand. 

Sie reichte mir den Umschlag und sagte: „Julia, wir haben ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk für dich. Da ich jetzt soviel verdiene und Papa auch wieder mehr Kunden hat, konnten wir uns etwas Tolles leisten.“  

Gespannt öffnete ich den Umschlag und konnte nicht fassen, was ich sah. In dem Umschlag lagen drei Flugtickets nach Washington.  

„Weiße Weihnachten, Juli!“, rief mein Vater und grinste mich an. Doch ich war viel zu überwältigt, um antworten zu können. Mama lächelte und sagte: „Uns ist eindeutig ein Weihnachtswunder passiert.“    

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