Blickwinkel
Blickwinkel

Blickwinkel

Ich blickte erneut auf mein Handy, das fünfte Mal schon diese Stunde. Die Zeit verging so langsam, und das schon das ganze Jahr. Noch nie war ein Jahr so schlimm für mich gewesen, und noch nie hatte ich mich so wenig auf Weihnachten gefreut wie dieses Jahr. Weihnachten war toll, wenn du wusstest, dass alles in Ordnung war, und du ungestört feiern konntest, doch dem war nicht so.

Ständig gab es neue Dinge, die die ganze Welt ins Chaos stürzten und extreme Veränderungen für uns brachten. Und darauf kamen noch all die Dinge, mit denen ich als normale Durchschnittsperson zu kämpfen hatte, und obwohl manche sagen würden, dass dies die typischen Probleme eines Teenagers waren, schien ich trotzdem nicht mit ihnen klarzukommen, was mich ziemlich beschäftigte.

Der Schneeregen eines endlos langen Dezembers prasselte gegen mein Fenster und ich stand langsam vom Fensterbrett auf, mein Handy immer noch in meiner Hand. Ich wartete auf keine bestimmte Nachricht, sondern einfach auf irgendeine Ablenkung von meiner Langeweile und von den langsamen Weihnachtsliedern, die leise unten im Wohnzimmer zu hören waren. Meine Mutter war schon seit Wochen in Weihnachtsstimmung; dieselben drei Songs waberten bereits seit Tagen durch das Treppenhaus. Ich wünschte, ich könnte einfach alles ausblenden, irgendjemanden treffen, doch ich konnte nicht. Meine Mutter würde bald erwarten, dass ich ihr helfen würde, auch wenn sie wusste, dass ich keine Lust auf Backen hatte, und es auch nicht konnte.

Ich blickte erneut aus meinem Fenster und sah in die Abenddämmerung herein, die mit den zahlreichen Lichtern der gegenüberliegenden Häuser geschmückt war. Mit einem lauten Krachen öffnete ich das Fenster und blickte hinaus in die Stille. Die kalte Abendluft wehte mir entgegen und bildete einen angenehmen Kontrast zu der warmen Heizungsluft in meinem Zimmer. Ich atmete tief ein und setzte mein Bein langsam auf das Fensterbrett. Mein Zimmer lag im ersten Stock, weshalb ich theoretisch von meinem Zimmerfenster direkt nach draußen gehen konnte, doch ich hatte das noch nie getan, ohne dass meine Eltern davon wussten. Langsam setzte ich auch mein zweites Bein auf das Fensterbrett und nun baumelten beide meine Beine aus dem Fenster und meine Hände klammerten sich am Fenstersims fest, ängstlich das Gleichgewicht zu verlieren, obwohl der Boden direkt unter mir war.

Ich wusste, wie sauer meine Mutter wäre, wenn ich einfach rausgehen würde, doch ich griff bereits nach meiner Jacke, die neben der Fensterbank lag und stieß mich langsam vom Fenstersims ab. Meine Beine landeten sanft auf dem Boden und die kalte Luft umhüllte mich wie ein Umhang. Langsam schloss ich mein Zimmerfenster, allerdings nur provisorisch, da man es nur von innen öffnen oder schließen konnte. Ich blickte nur kurz zurück und dann rannte ich los, kein bestimmtes Ziel vor meinen Augen, nur den Drang, aus dem Haus zu kommen.

Natürlich hätte ich meiner Mutter Bescheid geben können und wahrscheinlich müssen, doch es hätte einen Konflikt gegeben und sie hätte nein gesagt, weshalb diese Option nie zur Auswahl gestanden hätte. Die Lichter der Häuser blendeten mich und ich kniff die Augen leicht zu, um das Licht so gut wie möglich auszublenden. Ich war ungefähr zwei Kilometer gelaufen als ich anhielt.

Vor mir lag eine verschneite Gegend und eine gefüllte Eislaufbahn, die nur so von Kindern und Jugendlichen wimmelte. Ich lief weiter, versuchte mich, in die Menge zu mischen, doch es verschaffte mir nicht die gleiche Freude wie den anderen, die sich drehten, hinfielen und mit anderen an ihrem Arm über die Fläche schlitterten. Fast alle hatten einen Partner, Freunde oder Eltern dabei, an denen sie sich festhielten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und ich fühlte mich falsch, ganz alleine, weswegen ich die Fläche verließ.

Ich lief weiter, sah viele telefonieren, der Großteil mit verzaubertem Lächeln auf ihrem Gesicht. Wen sie wohl anriefen, fragte ich mich und fühlte mich für einen kurzen Moment einsam, doch ich unterdrückte das Gefühl. Ich lief weiter, bis meine Füße schmerzten und blieb schließlich stehen. Ich war so lange gelaufen, dass ich nicht mal mehr die Straße erkannte, in der ich war. Ich hatte gedacht, dass das Weglaufen und Verbringen eines kompletten Tages allein, mich glücklich machen würde, dass ich mich besser fühlen würde, doch dem war nicht so.

All die Leute mit ihren Freunden und Familien hatten mich verstimmt und das Weglaufen war bei Weitem nicht so spannend gewesen, wie ich es gehofft hatte, und ich hatte durch die ganzen blinkenden Lichter und den aufdringlichen Geruch von Punsch nicht ein Funken mehr Weihnachtsstimmung bekommen. Langsam setzte das Schuldgefühl ein und ich dachte an die ganzen Familien an der Eislaufbahn. Meine Mutter war bestimmt enttäuscht von mir und ich konnte sie dafür nicht mal verurteilen. Im Gegenteil, ich hatte ihre Enttäuschung im Zweifel verdient, obwohl ich mir nicht erlaubte, so zu denken. Trotz meiner schmerzenden Füße stand ich also auf und ich rannte zurück. Den ganzen Weg, und komischerweise fand ich zurück, ohne mich zu verlaufen, die brennenden Lichter und die verschiedenen Adventskränze an den Türen halfen mir in einer gewissen Weise dabei und ich war noch nie so dankbar gewesen, dass es Lichterketten und Weihnachtsschmuck gab. Ich war nicht sicher, wie lange ich gelaufen war, doch es war stockdunkel, als ich zu Hause ankam und außer Atem mein Zimmerfenster aufdrückte. Ich sprang hastig in mein Zimmer und spürte mein Handy in der Tasche vibrieren. Ich zog es aus meiner Tasche und sah Benachrichtigungen meiner Freunde und zahlreiche meiner Mutter und steckte es schnell wieder ein, während ich die Zimmertür öffnete und nach unten stürzte.

Meine Mutter saß auf dem Sofa und sie sprang auf, als sie mich sah, die Falten der Besorgnis noch immer auf ihrem Gesicht. Sie nahm mich in den Arm, schimpfend was ich mir nur gedacht hatte, und während mein Handy weitervibrierte in meiner Jackentasche, wusste ich, dass es einen Grund gab, warum ich die einzige Person alleine draußen gewesen war. Ich hatte keinen Punsch gebraucht und keine Eislaufbahn für die Weihnachtsstimmung, sondern nur diese Nachrichten in meiner Tasche und die Vertrautheit der Menschen, die mich kannten. Ich war naiv gewesen, zu denken, dass ich es ohne sie besser hatte, doch ich denke, ich hatte es in gewisser Weise gebraucht, allein zu sein, um dies zu realisieren. Während ich mich aus der Umarmung meiner Mutter löste, fiel mir auf, dass das ganze Haus nach Weihnachten duftete und auf einmal, zum ersten Mal in diesem Jahr, kam mir dies nicht mehr bedrängend vor.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert