Hilf mir.
Hilf mir.

Hilf mir.

Auch wenn mir alle sagen, ich wäre verrückt, halte ich an dem Gedanken fest, dass sie noch dort draußen ist. Auch wenn sie seit Wochen verschwunden ist.

Wie fast jeden Tag ging ich in den Wald, nahegelegen an unserem Haus, um nach ihr zu suchen. Die Sonne schien durch die Blätterkrone und der Wind streifte durch die Bäume. Es roch nach Regen und nach den Blumen, die am Wegrand wuchsen. Es war wunderschön, wenn nicht dieses Gefühl von Leere und Verzweiflung, sie nie wiederzusehen, wäre. Ich verlangsamte meine Schritte, weil ich Angst hatte, etwas zu übersehen. Schließlich blieb ich stehen. Ich blickte in alle Richtungen, in der Hoffnung etwas zu finden, was mir weiterhelfen würde. Vergebens.

Etwas später hörte ich ein Rascheln und drehte mich ruckartig in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Eine Maus sah mich aus kleinen Knopfaugen an und verschwand wieder im Unterholz. Ich atmete enttäuscht aus, aber was hatte ich erwartet? Das sie jetzt einfach dort steht? Wohl kaum.

Es war zum verrückt werden! Frustriert und verzweifelt ließ sich mich nach unten sacken. Hier hockte ich nun, meine Ellenbogen auf meine Kniescheiben gelegt, meine Hände hingen zwischen meinen Beinen. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich legte den Kopf in den Nacken, um zu verhindern, dass ich jetzt losweinte. Ich sah durch ein kleines Loch in dem grünen Blätterdach in den blauen Himmel. Ein paar Vögel flogen vorbei und es kam wieder Wind auf. Ich atmete ein paar Mal tief durch und stand wieder auf. Es hatte keinen Sinn. Sie war weg. Eine Seite in mir redete sich ein, dass sie noch dort draußen ist. Die andere gab den Leuten im Dorf recht. Es hatte keinen Sinn.

Der Weg zurück nach Hause kam mir viel länger vor als der Weg hierhin. Vielleicht lag es daran, dass ich langsamer lief oder dass ich so gut wie keine Hoffnung mehr hatte. Die Stimme meiner Oma hallte in meinem Kopf wider: „Hoffnung ist eine gefährliche Sache. Sie kann Menschen in den Wahnsinn treiben, oder aber ihnen die nötige Energie geben, die sie brauchen.“ Sie hatte recht. Bis jetzt dachte ich, sie gibt mir die nötige Energie, die ich gebraucht hatte. Doch jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob sie mich in den Wahnsinn getrieben hat.

Wenig später stand ich vor der dunkelblau gestrichenen Haustür unseres Hauses. Oder meinem Haus? Egal. Ich schloss auf, ging rein und schaltete das Licht ein. Alles sah aus wie immer. Auf dem Sofa lagen ein paar Kissen und eine Decke hing über die Sofalehne. Auf dem Wohnzimmertisch lagen ein paar Bücher und die Fernbedienung. Neben dem Sofa stand eine große Zimmerpflanze, die dringend mal wieder gegossen werden sollte. Ich ging durch die Tür in die Küche und die Treppe nach oben. In meinem Zimmer war es dunkel. Ich schaltete die kleine Lampe auf meinem Nachttisch ein und setzte mich seufzend auf mein Bett. In Gedanken versunken starrte ich auf die Wand mir gegenüber.

Ein Poltern von draußen riss mich aus meiner Starre. Ein paar Sekunden später war ich unten im Wohnzimmer. Die Geräusche veränderten sich und anstelle des Polterns hörte man nun ein Kratzen und ein Geräusch, was sich anhörte, als ob ein alter, kranker Hund röcheln würde. Ich bekam langsam Angst und verlangsamte meine Schritte. Vorsichtig ging ich zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Draußen hatte sich ein dichter Nebel gebildet. Ich konnte nichts erkennen.

Das Röcheln hörte auf und für einen Moment kehrte Stille ein. Ich atmete erleichtert auf, nur um zwei Sekunden später zu schreien und rückwärtszustolpern. Eine Hand tauchte aus dem Nebel auf. Nur ein paar Millimeter vor der Fensterscheibe. Sie bestand nur aus Haut und Knochen. Die Adern waren klar zu erkennen und man konnte sehen, wie das Blut in ihnen pulsiert. Spitze, lange Fingernägel kratzen an dem Glas und es entstand ein schrecklich unangenehmes Geräusch.

Regungslos starte ich auf die Hand. Panik stieg in mir auf. Ich versuchte mich zu bewegen, wegzurennen. Die Hand löste sich von der Scheibe und verschwand wieder. Ich blinzelte, schüttelte den Kopf und erwachte aus meiner Starre. Ich überlegte nicht lang und ging in die Küche. Im Schrank, in der zweiten Schublade von oben, lag eines der großen Messer. Ich riss die Schublade auf, sodass das Besteck nach vorne geschleudert wurde und ein klirrendes Geräusch ergab. Das Messer war nicht schwer zu erkennen. Ich nahm es schnell heraus und ging zurück in Richtung Fenster.

Die Geräusche waren leiser, aber nicht verschwunden. Auf dem Fenster waren krallenartige Spuren zu sehen. Langsam näherte ich mich dem Fenster, den Messergriff fest mit meiner Hand umschlossen. Wegen des dichten Nebels konnte ich so gut wie nichts erkennen, nur eine Silhouette, die vor dem Fenster kauerte. Sie sah fast aus wie ein Mensch, nur etwas verunstaltet. Ich legte den Kopf schief und betrachtete sie genauer. Es sah so aus, als ob es über etwas gebeugt sitzt. Ich sah die Kreatur mit einer Mischung aus Neugier, Verwirrung und Angst an. Ich trat vom Fenster weg und ging langsam auf die Tür zu. Wahrscheinlich keine gut Idee, aber meine Neugier war größer. Langsam öffnete ich die Tür und hoffte sie würde keine Geräusche machen. Draußen konnte man zwar mehr sehen als im Haus, aber nicht viel. Ich konnte gerade mal fünf Meter weit gucken. Das Messer fest umgriffen ging ich auf die Kreatur zu. Einen Schritt nach dem anderen, langsam. Bloß kein Geräusch machen. Als ich näherkam, sah ich, dass sie etwas aß. Also ich vermutete es – die Art, wie sie über dem Boden hockte und die Hände vor dem Mund hielt. Nur ein paar Schritte von mir entfernt.

Ich trat noch einen Schritt näher heran, um erkennen zu können, was es isst. Ich trat auf ein Blatt und unter meinen Füßen knirschte es leise. Ich hielt die Luft an und stand regungslos da. Gerade, als ich hoffte, es hätte mich nicht gehört, drehte es sich um. Langsam, wie in Zeitlupe. Leere, schwarze Augen sahen mich an. Es ließ seine Beute fallen und ein dumpfes Geräusch ertönte, als sie auf den Boden fiel. Jetzt konnte ich es erkennen, es war ein Fuchs. Ein relativ kleiner, aber immer noch ein Fuchs. Ich sah wieder auf, und das Wesen sah mich immer noch an. Sein Mund verschmiert mit Blut. Es glich einer Leiche. Blasse, graue Haut, lange spitze Finger, zerfetzte Kleider und die Haare waren größtenteils ausgefallen oder gerissen. Es sah aus wie ein verwester Mensch.

Es legte den Kopf schief und bewegte sich langsam auf mich zu. Es lief zwar auf seinen Beinen, aber stützte sich immer wieder auf seinen Händen ab. Vielleicht war es, weil es vorher auf dem Boden gehockt hatte und sich jetzt einfach nicht aufrichtete. Oder es bewegte sich einfach auf diese Weise, das konnte ich nicht sagen. Ich trat einen Schritt nach dem anderen zurück und versuchte, keine hektischen Bewegungen zu machen. Nach ein paar Schritten stieß ich gegen die Hauswand. Die Luft wurde aus meinen Lungen gedrückt und ein unangenehmes Gefühl breitete sich aus. Ich verzog mein Gesicht und atmete einmal tief ein, was schwierig war, denn ich versuchte, kein Geräusch von mir zu geben. Mein Blick starr auf die Kreatur gerichtet und das Messer fest umklammert tastete ich nach der Tür, die ins Haus führte. Nach einer gefühlten Ewigkeit fand ich den Türknauf und wollte die Tür öffnen. Ich versuchte ihn zu drehen, aber er bewegte sich keinen Millimeter. Die Tür war zu. Natürlich. Ich hatte vergessen, dass die Tür, wenn sie ins Schloss fällt, logischerweise zu ist.

Die Kreatur kam immer näher. Mein Herz schlug wie verrückt und ich konnte nicht mehr vernünftig denken. Ich hob das Messer und ging auf das Wesen zu. Die schwarzen Augen weiteten sich und es hob eine dünne, graue Hand. Sie verfehlte mich nur knapp. Ich schrie in der Hoffnung, es würde die Kreatur verwirren, und stach das Messer in das Fleisch des Wesens. Ein kläglicher Aufschrei ertönte und es taumelte zurück. Als es wieder aufblickte, sah es mehr als wütend aus. Die Augen waren verengt und strahlten Hass aus. Jetzt richtete es sich auf und überragte mich locker um zwei Köpfe.

Es kam auf mich zu, dieses Mal schneller. Ich hob das Messer und wollte zustechen, doch es schlug es mir aus der Hand und es flog in den Nebel. Mein erster Gedanke war wegzurennen. Doch nachdem ich gesehen hatte, wie schnell und groß es sein konnte, brachte das wahrscheinlich nichts. Es fing an nach mir zu schlagen. Ich musste immer wieder ausweichen, um nicht getroffen zu werden. Irgendwann stolperte ich über einen dicken Ast und fiel. Ich krabbelte für einen kurzen Moment rückwärts, bis mir eine Idee durch den Kopf schoss. Ich nahm den Ast und stellte ihn schräg vor mir auf, in der Hoffnung, die Kreatur würde ihn auf Grund des Nebels nicht erkennen. Ich schloss die Augen und das Letzte, was ich hörte, war ein erstickter Schrei. Als ich sie wieder öffnete, sah ich, dass mein Plan aufgegangen war. Die Kreatur war in den Ast hineingerannt. Er ging genau durch die Mitte des Wesens.

Ich war erleichtert und geschockt zu gleich. Ich stand auf und atmete tief durch. Für einen Moment war alles gut. Dann hörte ich Schreie aus der Richtung vom Dorf. Meine Augen weiteten sich und ich fing an zu rennen. Es war nicht weit und ich errichte das Dorf nach zwei Minuten. Überall waren Menschen und versuchten, sich und andere in Sicherheit zu bringen. Auf einen Blick sah ich allein drei dieser Kreaturen. Ich lief ins Dorf und sah mich um. Vor mir fiel jemand zu Boden, stand wieder auf und rannte davon. Aus dem Augenwinkel sah ich eine Person, die hier eigentlich nicht sein konnte. Ich drehte mich in ihre Richtung, konnte aber nicht viel erkennen. Auch hier war es nebelig. Aber nicht so nebelig wie bei mir am Haus. Ich ging auf die Person zu, doch sie rannte davon. Ich rannte ihr hinterher und wir rannten durch enge Gassen, bis ich sie endlich eingeholt hatte. Meine Hand griff nach dem Ärmel eines blauen, kaputten Shirts. Sie versuchte, sich loszureißen, doch es gelang ihr nicht. Mit viel Schwung drehte ich sie zu mir um und blickte in ihr Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen, unwillig mich anzusehen. Doch das war sie. Ich ließ ihren Ärmel los und sie blieb regungslos vor mir stehen. Für einen Moment blieb ich still. Ich konnte es einfach nicht fassen. Wie? Warum jetzt?

„Wo warst du?“, brachte ich schließlich heraus. Meine Augen brannten, als ich sie ansah. „Wo …,“ meine Stimme brach. „Wo bist du …,“ ich musste einmal tief einatmen, um weitersprechen zu können „ … gewesen?“ Sie blieb still und sah von mir weg. „Schau‘ mich an … bitte.“ Ich wollte nur in ihre Augen sehen. Langsam schüttelte sie den Kopf. Ihre Augen hatte sie offen, doch ich konnte sie nicht sehen. Ich sagte ihren Namen, doch sie reagierte nicht. Ich spürte, wie langsam Tränen meine Wangen runterliefen. Wie konnte sie mir das antun? Erst verschwindet sie wochenlang, dann taucht sie einfach auf, wenn gefühlt die Welt untergeht, und jetzt sieht sie mich nicht mal an?

Ich sagte erneut ihren Namen, dieses Mal lauter. Sie zuckte leicht zusammen, doch bewegte sich sonst kein Stück. „Sag mir nur, was passiert ist. Bitte.“ Meine Stimme klang kläglich. Sie drehte sich endlich zu mir. Ihr Blick ging nach unten und als sie hochblickte, sah ich, warum sie mich nicht ansehen wollte. Ihre Augen waren pechschwarz. Ich brauchte eine Weile, um zu realisieren. Meine Beine bewegten sich ein paar Schritte zurück „Nein. Nein. Nein.“ Sie sah wieder weg. Ich erwartete, dass sie mich jeden Augenblick angreifen würde. Doch sie stand nur da. Aus einem mir nicht bekannten Grund war sie nicht auf Ärger aus. Sie sah eher müde und schwach aus. Ich konnte sehen, wie sie tief ein- und ausatmete, dann ging sie langsam auf mich zu. Ihre Schritte waren klein und wirkten unbeholfen. Als sie vor mir zu stehen kam, sagte sie etwas, doch es war zu leise, um es zu verstehen. Ich bewegte meinen Kopf näher zu ihrem, um es verstehen zu können.

„Hilf mir.“ Ihre Stimme klang so hilflos und schwach. Es brach mir das Herz. Ich sah sie an und fragte, wie ich ihr helfen konnte, doch sie wiederholte immer nur diese zwei Worte. Immer und immer wieder. Langsam wurde es gruselig und ich fing an zu verzweifeln. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und kam mir so unendlich hilflos vor. Sie schien langsam verrückt zu werden und ich konnte nichts für sie tun. Ich zerbrach mir gerade den Kopf darüber, was ich tun könnte, als sie auf mich zu gerannt kam. Ich erschrak und wollte zur Seite ausweichen, doch sie warf mich um. Ich knallte mit dem Kopf auf den Boden und der Schmerz zog sich durch meinen gesamten Körper.

Ich öffnete meine Augen und fand mich in meinem Zimmer wieder. Ich lag neben meinem Bett auf dem Boden und mein Kopf schmerzte. War das alles ein Traum gewesen? War ich von meinem Bett gefallen und davon aufgewacht? Nach ein paar Minuten Verarbeitung stand ich auf und ging zur Zimmertür. Mit einem Knarzen öffnete diese sich, als ich dagegen drückte. Im Haus war es leise. Alles, was man hören konnte, waren die Vögel draußen. Ich ging nach unten, um nachzusehen, ob ich allein war. Eigentlich ging sie nicht so früh raus, also müsste sie noch da sein. Unten war sie nicht.  Ich ging in ihr Zimmer. Das Bett war gemacht, heißt, sie muss schon wach sein. Mit gerunzelter Stirn ging ich wieder aus ihrem Zimmer. Ich beschloss, noch mal im Wohnzimmer nachzusehen, vielleicht war sie nur im Bad gewesen. Sie war nicht da. Ich erinnerte mich an meinen Traum und wurde unruhig.  Also ging ich erneut in die Küche. Da war etwas, was ich vorhin nicht gesehen hatte. Ein Zettel lag auf der Arbeitsfläche. Ich schluckte und nahm ihn hoch.

„Ich bin im Wald, um Pilze und Kräuter zu suchen. Mach dir keine Sorgen, ich bin vor Sonnenuntergang wieder da.“

Zitternd ließ ich den Zettel sinken. Es war nur ein Traum. Sie geht oft in den Wald. Alles ist normal. Ich versuchte, mir gut zuzureden, doch innerlich war ich bereits in Panik verfallen.

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