Olivgrüne Augen
Olivgrüne Augen

Olivgrüne Augen

Der Nebel war so dicht, dass ich nicht mal die Bäume des Waldes sah. Ich konnte nur die kleine Holzhütte sehen, vor der ich stand. Sie war meine einzige Chance zu entkommen. Ich rannte an das Fenster und legte meine Hand dagegen. Damit wischte ich die Tropfen von der Scheibe und konnte für einen kurzen Moment klar hindurchgucken. Ich sah die Silhouette eines Mädchens, das etwas in der Hand hielt. Der Gegenstand in ihrer Hand sah einem Messer gefährlich ähnlich. Trotzdem war sie meine einzige Hoffnung. Ob sie mich jetzt umbrachte oder das menschenfressende Ding, was mich erst in diesen schrecklichen Wald getrieben hatte und mich verfolgte? Dieses würde mich sicherlich in die Finger bekommen, wenn ich noch weiter durch den vernebelten Wald irrte. Da hatte ich bei dem Mädchen schon bessere Chancen zu überleben. Also hämmerte ich so laut ich konnte gegen die längst wieder beschlagene Fensterscheibe.

Die Silhouette des Mädchens hielt in ihrer Bewegung inne und blieb wie angewurzelt stehen. Ich hämmerte noch einmal verzweifelt gegen die Scheibe. Das Mädchen bewegte sich wieder. Sie lief aber nicht zum Fenster, sondern drehte sich weg und lief etwas tiefer in den Raum, wo sie eine Art Schrank aufriss und das Messer reinlegte. Dann kam sie auf das Fenster zu. Sie öffnete es und schaute mir schweigend in die Augen. Ich versuchte meinen Atem zu kontrollieren, da ich von dem langen Rennen durch den Wald noch ganz außer Atem war.

Einen Moment lang schaute ich sie an. Sie schien nicht viel älter als ich zu sein. Ich schätze sie auf 18. Endlich konnte ich halbwegs ruhig atmen. Sie schaute mich immer noch an, ohne ein Wort zu sagen. Ihre olivgrünen Augen starrten geradewegs durch mich durch. Ich fragte erschöpft: „Hallo, ich bin auf der Flucht. Kann ich mich einen Moment bei dir verstecken?“

Sie schaute mich noch einen Moment an und schloss dann langsam das Fenster. Verzweifelt blieb ich davor stehen und hämmerte noch einmal dagegen. Doch das Fenster ging nicht wieder auf. Mein Puls stieg wieder und meine Knie wurden kribbelig. In dem Moment öffnete sich die Tür und das Mädchen schaute mich wieder aus ihren olivgrünen Augen an. Ihr pechschwarzes Haar flog ihr ins Gesicht und ihre blasse Haut glänzte in dem vernebelten Licht. Sie winkte mich zu sich. Einen Moment lang musterte sie mich noch, begutachtete meine zerrissene Hose und die zerzausten Haare und ging dann rein. Die Tür ließ sie offen stehen. Dankbar, dass sie mich reinließ, ging ich ihr hinterher und schloss die Tür. 

Ich fand mich in einem weiten offenen Raum wieder. An den Wänden hingen ausgestopfte Tiere und Jagdgewehre. Das musste eine Jägerhütte sein. Das Mädchen stand neben einem verstaubten Sessel am kleinen Kamin der Hütte. Ich ging auf sie zu und lächelte etwas nervös. Innerlich rätselte ich, warum sie noch kein Wort gesprochen hatte. Das konnte ich allerdings nicht lange, da sie mich mit einer warmen Decke um meine Schultern aus meinen Gedanken riss. Ich lächelte und bedankte mich bei ihr. Das Mädchen nickte und setzte sich.

Erst jetzt, wo ich im Warmen war und die Gefahr, getötet zu werden, nicht mehr so groß war, merkte ich, dass mein linkes Knie schmerzte. Nach einem kurzen Blick auf meine Beine sah ich, dass meine Hose auch aufgerissen und blutverschmiert war. Ich hatte mir mein Knie bei einem Sturz im Wald offenbar aufgeschürft und es durch das Adrenalin gar nicht gemerkt. Ich beschloss, das vorerst zu ignorieren und erstmal mit dem Mädchen zu reden.

Etwas nervös stellte ich mich dann vor: „Hi, ich bin Jane. Danke, dass du mich reingelassen hast.“ Ein Lächeln setzte sich auf ihren Lippen fest, das auch mich zum Schmunzeln brachte.

„Hi, Jane“, antwortete sie, mit einer beruhigenden, melodischen Stimme. Sie klang so nett und ruhig, dass ich sogar kurzzeitig das Messer vergaß.

„Ich bin Yola“, fügte sie leiser hinzu, wobei sie mich nicht mehr anschaute. Es wirkte fast als sei sie von ihrem eigenen Namen eingeschüchtert. Die Härchen auf ihrem Arm richteten sich trotz des warmen Feuers im Kamin auf und ihre Augen starrten abwesend aus dem beschlagenen Fenster. Eine peinliche Stille legte sich über den Raum und Yola schien wie in einer anderen Welt. Ich räusperte mich kurz, um ihre Aufmerksamkeit zurückzubekommen und wickelte mir die Decke weiter um die Schultern.

Yola zuckte durch das Räuspern kurz zusammen. Dann schaute sie mich wieder an. Doch irgendwas irritierte mich an ihrem Blick. Es war fast so, als ob da nicht mehr das Mädchen vor mir stand, das mich vorhin in die Hütte gelassen und mir die Decke gegeben hatte. Ihre Augen waren viel gelblicher, ihre Pupillen waren länglicher – fast schlangenartig – und ihre Gesichtszüge angespannter. Sie machte mir etwas Angst, doch was hatte ich für eine Wahl? Dieses Mädchen war meine einzige Chance, wieder lebend aus diesem Wald rauszukommen. Also fasste ich meinen Mut zusammen und sprach sie noch einmal an: „Hast du etwas zu Essen für mich? Ich sterbe vor Hunger.“ Yola nickte angespannt und ging schräg durch den Raum, auf eine Küche zu. Ich folgte ihr und schaute mich währenddessen weiter in der Hütte um. Es sah so aus, als ob Yola hier wohnen würde. Die Hütte war zwar sehr sauber und aufgeräumt, aber viele Sachen lagen verstreut auf dem Boden. So auch die leere Getränkedose über die ich beinahe stolperte. Während ich mich weiter umsah, nahm Yola eine Ravioli-Konservendose aus dem Schrank und füllte den Inhalt in einen kleinen Topf, den sie auf einen winzigen Herd stellte.

Nach dem Essen saß ich in dem Sessel neben dem Kamin und wärmte mich ein bisschen. Ich überlegte, wie ich zurück nach Hause kommen sollte, denn durch den Nebel im Wald und das schnelle Rennen konnte ich mir den Weg, den ich gekommen war, nicht merken. Yola stand schweigend neben mir und sah schon wieder abwesend aus. Sie starrte auf den Schrank, den ich vom Fenster aus gesehen hatte.

Da fiel mir das Messer wieder ein, das sie in den Schrank gelegt hatte. Meine Muskeln spannten sich an und mein Bein begann zu zucken. Wollte sie mich doch umbringen? Aber wenn sie das wollte, warum hat sie mir dann Essen gemacht. Außerdem waren in der Küche auch Messer, mit denen sie mich hätte umbringen können. Bei dem Gedanken daran lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Yola erwachte aus ihrer Starre und schaute mich ruckartig an. Ihre Augen waren wieder so seltsam gelblich. Ihr harter Blick prickelte auf meiner Haut und ihre Schlangenaugen machten mich unruhig. Sie flackerten kurz, als ob Yola versuchte, die Schlangenaugen wegzudrängen. Für einen kurzen Moment wurde ihr Blick weich und traurig. Ich wusste nicht, ob ich mich jetzt um sie oder um mich sorgen sollte. Ihr Blick wurde wieder fest und ihre Muskeln spannten sich an. Ihre Haut wurde spröde und verlor ihre Farbe. Da wo vorher ein zartes Rosa auf ihren Wangen lag, hatte ihre Haut jetzt einen Grauton. Ihre Hände wurden bleich und ihre Haut rissig. Nun sah sie schon nicht mehr wirklich nach einem Menschen aus. Sie ähnelte einer Schlange, die sich gerade häutete. Hastig stand ich auf und entfernte mich von ihr. Yola wurde immer größer und grauer. Sie ähnelte mittlerweile dem Wesen, das mich durch den Wald verfolgt hatte.

Ich wollte mich aus der Hütte retten, doch sie versperrte mir den Weg. Scheinbar war sie mit ihrer Verwandlung fertig. Sie hatte kein bisschen mehr von einem Menschen, dafür sah sie jetzt genauso aus, wie das Wesen, das mich verfolgt hatte. Zumindest soweit ich das Wesen sehen konnte während der Flucht. Große gelbe Augen, graue schuppige Haut und einen ebenfalls grau beschuppten Schwanz.

Sie war mittlerweile dreimal so groß wie ich und ragte aus dem Dach der kleinen Hütte. Mit ihrem Schwanz und dem breiten Körper stieß sie in der Hütte alles Mögliche um und ich musste aufpassen, nicht von herunterfallenden Deckenbalken getroffen zu werden. Mit ihrem massigen Körper stand sie genau vor der Tür und blockierte gleichzeitig eines der Fenster.

Mein einziger Vorteil war, dass sie zu groß und massig war, um sich schnell bewegen zu können. Ich duckte mich unter eingestürzte Balken und versuchte zum Fenster auf der anderen Seite des Raums zu kommen. Allerdings riss sie so viel um, dass ich mich sehr schwertat, wieder aus meinem Versteck rauszukommen. Bei jedem Teil, das auf dem Boden aufprallte, zuckte ich zusammen. Trotz dem Balken über mir fühlte es sich so an, als ob jederzeit etwas meinen Kopf treffen könnte.

Das Fenster war nur noch gute drei Meter von mir entfernt. Ich fasste all meinen Mut zusammen und sprang unter dem Holzbalken hervor. Schnell rannte ich zum Fenster und riss es auf. Es klemmte ein bisschen, aber ich riss mit solcher Wucht an dem Fenster, dass es aufsprang. Ein Stoß kalter Winterluft kam mir entgegen und ließ mich zittern. Egal, ich musste da raus. Schnell kletterte ich aus dem Fenster und rannte wieder in den Wald, in der Hoffnung sie würde mich nicht sehen.

Ich kam ein Stück von der Hütte weg und duckte mich unter eine große Tanne. Mit ihrer Größe müsste sie mich hier unten eigentlich übersehen, dachte ich mir und drückte meinen Rücken noch näher an den Stamm der Tanne. Für einen Moment war es ganz still im Wald. Erleichtert atmete ich aus und entspannte meine Muskeln ein bisschen. Vielleicht war ich sie endlich losgeworden.

In dem Moment zitterte der Boden unter mir und ihre grauen massigen Beine tauchten vor mir auf. Sie stand genau vor der Tanne. Ich spannte mich wieder an und klammerte mich an den Stamm. Sie schien mich nicht zu bemerken und drehte sich wieder um. Dabei stieß sie mit ihrem gewaltigen Schwanz gegen die Tanne, was diese zu Fall brachte. Das Holz splitterte zur Seite und die Tanne krachte zu Boden. Ich schrie vor Schreck kurz auf und rannte sofort von der Tanne weg. Ein großer Ast, den sie abgerissen haben muss, knallte einen Meter vor mir zu Boden.

Das Wesen drehte sich in dem Moment nochmal um und schaute mich diesmal genau an. Ehe ich reagieren konnte, hatte sie mich mit ihren affenartigen Händen gepackt und hochgehoben. Ich konnte mich in ihrem festen Griff nicht bewegen und hatte Atemprobleme. Ängstlich versuchte ich mich aus ihrem Griff zu winden, doch sie ließ nicht los. Mit mir in den Händen setzte sie sich wieder in Bewegung, in Richtung Hütte. Der Boden bebte unter ihren schweren Schritten und die Tannen schwankten hin und her. Vereinzelt fielen auch Bäume um, wenn sie mit ihrem schweren Schwanz dagegen kam.

An der kaputten Hütte angekommen, setzte sie mich durch das, von ihr erzeugte, Loch in die Hütte. Ich schaute sie verwundert an und wich ein paar Schritte zurück. Bevor ich weglaufen konnte, flackerten ihre Augen schon wieder. Mein Puls raste und ich malte mir die schlimmsten Gestalten aus, in die sie sich jetzt verwandeln könnte. Doch bevor ich mich versah, stand wieder das dunkelhaarige Mädchen mit den olivgrünen Augen vor mir. Sie lächelte mich schüchtern an und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Trotz ihrer jetzt wieder menschlichen Gestalt, wich ich weiter vor ihr zurück. Mein Kopf befahl mir wegzulaufen, doch meine Beine bewegten sich nur wie in Zeitlupe. Yola bemerkte, dass ich Angst vor ihr hatte und schaute mich entschuldigend an. Ihre ruhige Stimme erklang in meinen Ohren: „Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Sie klang aufrichtig und betrübt. Auch wenn ich Angst vor ihr hatte, beruhigte mich ihr Tonfall und mein Puls entspannte sich wieder. Immer noch etwas zittrig, fragte ich: „Wa- Warum hast du mich gejagt?“

„Ich war einsam. Alle, die je mit mir befreundet waren, haben mich verlassen, als ich mich zum ersten Mal verwandelte. Seitdem lebe ich allein hier in diesem Wald. Als du den Wald betreten hast, hast du mich an meine damalige beste Freundin erinnert. Das hat meine Emotionen durcheinandergebracht und ich wurde wieder zum Monster. Es tut mir so leid, Jane. Es war falsch, dich zu jagen. Aber das Monster kann ich nicht kontrollieren. Es bricht aus mir aus, wenn ich starke negative Emotionen spüre, und handelt dann ohne zu überlegen. Ich könnte gut verstehen, wenn du mich jetzt hasst.“

Mitleidig schaute ich sie an, unschlüssig ob ich wegrennen oder bleiben sollte. Starr blieb ich vor ihr stehen, schockiert von ihrer Geschichte und noch  immer ängstlich. Meine Gedanken schwirrten in meinem Kopf umher und gaben mir keine klare Antwort, ob ich weglaufen oder bleiben sollte. Ich fragte mich, ob sie mich anlog.

Während ich noch starr dastand, ging Yola auf den Schrank zu, in den sie das Messer gelegt hatte. Sofort begann ich wieder zu zittern. Jetzt war ich mir sicher. Ich wollte wegrennen. So schnell es ging. Doch bevor ich mich bewegen konnte, sagte sie: „Keine Angst. Ich tu dir nichts. Ich will dir nur was zeigen. Dieses Messer gehörte meiner besten Freundin. Sie hat sich damit gegen mich „verteidigt“, als ich mich das erste Mal verwandelte. Sie schnitt mir damals eine Schuppe ab. Ich hatte nie vor, ihr weh zu tun. Ich hatte einfach Angst.“

Yola hielt mir das Messer hin und ging dann wieder ein paar Schritte von mir weg. „Dieses Messer macht mir immer noch Angst. Deshalb möchte ich, dass du es nimmst. Als Beweis dafür, dass ich nicht vorhabe dir wehzutun.“ Ihr weicher Blick, ihre ruhige Stimme und das Messer in meinen Händen überzeugten mich. Ich lächelte ihr zu als Zeichen, dass ich keine Angst mehr hatte.

Seitdem gehe ich jeden Tag nach der Schule in den Wald und besuche Yola. Sie hat sich zu meiner besten Freundin entwickelt. Und irgendwann schaffe ich es, dass sie mich besuchen kommt.

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