Lass’ ihn los
Lass’ ihn los

Lass’ ihn los

Der Sommer 2022 war der Sommer, in dem meine Familie zerbrach und ich mich zum ersten Mal verliebte.

Kapitel 1

Und wieder ein Knall gegen den Schrank. Die Bücher rappeln so stark, als würden sie jeden Augenblick alle nacheinander rausfallen. Ich höre undeutliche Worte. Sie sind laut und voller Wut. Nur einzelne kann ich verstehen. Die einzigen Wörter, die ich aufschnappen kann, sind „Das hast du davon…“, oder etwas wie: „Überleg’ es dir beim nächsten Mal…“. Dann ist es still. Kurz darauf höre ich gedämpftes Schluchzen. Ich stehe mit meinem rechten Ohr gepresst an meine Tür, komplett weggetreten. Wenige Momente später, als ich wieder zu mir kam, wurde mein Körper ganz heiß, meine Hände kalt und mein Gesicht so weiß wie meine Wand, die ich gerade anblickte. Ich wusste direkt, was gerade passiert war. Mein Vater kam betrunken von der Kneipe nach Hause und wahrscheinlich hatte meine Mutter vergessen, seine Socken zu waschen, oder auch keinen Toast vom Einkaufen nach Hause mitgebracht. Mit anderen Worten: Er hat sie geschlagen.

Es passiert nicht oft, alle paar Wochen vielleicht, aber das macht es nicht weniger schlimm. Ich reiße meine Zimmertür auf und stürme raus. Einmal links und dann stehe ich im Wohnzimmer. Ich sehe meinen Vater noch im Augenwinkel die Badezimmertür zumachen, bis ich meine Mutter vor dem Bücherschrank sitzen sehe. Ihre Beine angewinkelt und ihr Kopf auf den Knien liegend. Ihre rotblonden Haare bedecken ihr Gesicht. Wie eingefroren stehe ich im Türrahmen und starre auf sie. Mein Kopf ist wie leergefegt, als wären meine Gedanken Staub und irgendjemand hätte einmal dagegen gepustet. Das Einzige, was ich mich frage, wie jemand einer Person so wehtun kann, obwohl er sie mal so geliebt hat, dass er sie geheiratet hat. Dann mache ich einen Schritt auf sie zu und noch einen. Als ich vor ihr stehe, wischt sie ihre Haare aus dem Gesicht und blickt in mein Gesicht. Ich wollte ihr sagen, wie leid es mir tut und dass ich die Polizei anrufen kann, obwohl sie mich schon tausendmal darum gebeten hat, es nicht zu machen. Doch das Einzige, was ich rausbrachte, war ein lauter Schluchzer und Tränen. Jetzt sind wir beide auf dem Boden und umarmen uns. Wir hielten uns, bis der Erste bereit war zu sprechen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit fing ich an „Mama…“ „Schhhh, du brauchst nichts zu sagen. Alles ist gut, wirklich, ich kläre das morgen“, unterbricht sie mich. Sowas sagt sie immer, doch ich wusste ganz genau, dass dieses Gespräch nie stattfinden wird und auch noch nie stattgefunden hatte. Also will ich weiterreden, aber ich weiß, egal was ich sagen würde, es würde sich absolut nichts ändern. Als ich aufstehe und nicht nach links gehe, um zu meinem Zimmer zu kommen, sondern nach rechts, wohin Robert, mein Vater gerade verschwunden ist, höre ich meine Mutter mit lauter, zugleich aber nicht kräftiger Stimme sagen: „Nicht!“. Wahrscheinlich kam mir ihre Stimme nur so laut vor, weil sie voller Panik war, mir könnte was passieren. Ich glaube, dass ich fast genauso große Angst vor ihm hab wie meine Mutter, wenn nicht sogar noch größere, da ich nicht nur Angst vor ihm hab, sondern auch noch Angst um meine Mutter. Und das, obwohl er mir noch nie wehgetan hat und ich mir auch sicher bin, dass es nie passieren wird. Wenn ich länger über ihn und seine Persönlichkeit nachdenke, desto sicherer bin ich mir: Er ist nicht unbedingt ein schlimmer Mensch. Er ist einfach nur ein Mensch, der schlimme Probleme hat, wie den Alkohol, und schlimme Sachen getan hat, die unverzeihlich sind. Trotz alledem war er mal der Mensch, der seit seiner Schulzeit in eine Person namens Regina verliebt war, mit ihr ein Kind bekommen hat, bei der Geburt mehr geweint hat als die Mutter selbst, diesem Kind dann jeden Tag Zöpfe geflochten hat und jeden vor sich selbst gestellt hat. Dieser Mensch existiert auch immer noch in ihm.

 

Kapitel 2

Gestern war ich noch fest davon überzeugt, dass ich meine Mutter in dieser Situation nicht alleine lassen kann und auch nicht möchte. Heute bin ich dabei, meinen Koffer zu packen.

„Bitte komm mit!”

„Nein, du weißt doch, was hier los ist. Da kann ich doch nicht am Strand liegen und so tun, als wäre nichts.”

„Es wird dir bestimmt helfen, dich abzulenken. Und du kannst doch nicht für immer bei dir zu Hause sein und Angst haben. Da wird man ja depressiv.”

„Ich werd’s mir überlegen. Ok?”

„Also … du kommst mit!”

„Ich habe gesagt ich: ICH WERDE ES MIR ÜBERLEGEN!”

„Ja, ja… viel Spaß beim Kofferpacken!”

Schreibe ich meiner Freundin, ehemaliger Klassenkameradin und derzeitigen Arbeitskollegin, während ich auf dem Bett lag. Dann drehe ich mich auf den Rücken und gucke nach rechts. Da sehe ich die Bilder an meiner Wand hängen. Auf einem stehe ich neben meinem Vater, weit lachend und mit Daumen nach oben zeigend, auf dem Berg neben dem Gipfelkreuz. Darunter ist ein anderes, wo ich mit meinen Freundinnen an irgendeiner Bar in Barcelona sitze. Neben uns drei fremde Jungs, die Ihre Arme um uns haben. Bevor ich es weiß, krame ich schon meinen verstaubten Koffer hervor, welcher jahrelang unangetastet unter meinem Bett lag. Dann ist es für mich entschieden: Ich werde mit Rachel nach Teneriffa fliegen. Es war schon unser Traumreiseziel, bevor ich überhaupt das erste Mal verreist bin.

Jetzt bin ich gerade dabei, meine Socken für den Urlaub abzuzählen, meinen Impf- und Reisepass zum Handgepäck zu tun und ohne irgendeinen richtigen Plan hektisch durch das ganze Haus zu rennen.

Sieben Stunden später stehe ich erschöpft vor meinem viel zu vollen Koffer. Während ich die letzten Stunden durch das Haus gerannt war, hatte meine Mutter natürlich auch schon von der ganzen Sache mitgekriegt. Ich hatte keine Angst, ihr davon zu erzählen, dass sie es mir verbieten würde, oder mich darum bittet, nicht zu gehen, denn das hätte sie niemals gesagt. Eher hätte sie mich angefleht, in den Urlaub zu fahren und mein Leben zu genießen. Aber ich konnte kurz in ihrem Gesicht erkennen, dass sie nicht allein sein möchte, wenn ich weg bin. Als ich gerade im Flur meine Schuhe holen wollte, kam sie zu mir. „Romee… hey … was hast du vor?“, fragte sie, schon längst wissend, was meine Antwort sein wird. Dann habe ich ihr davon erzählt. Wie mich Rachel gefragt hat, ich erst nicht gehen wollte und ich mich zwar sehr auf Teneriffa freue, aber auch ihretwegen dableiben würde. Erst hat sie keine Reaktion gezeigt, doch dann fing sie an zu lachen und umarmte mich. Sie erklärte mir: „Natürlich kannst du gehen. Bitte bleib nicht wegen mir. Ich komme zurecht. Hab einfach Spaß.“ „Okay, danke…“, antwortete ich flüsternd.

Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Meine Mutter – und sogar mein Vater – stehen an unserer Haustür. Ich drücke noch beide zum Abschied – ja, ihn auch, obwohl es bei ihm nicht aus dem Grund war, dass ich gehe, sondern eher weil er immer noch mein Vater ist und ich ihn immer noch zum Teil lieben werde. Dann sprinte ich ins Taxi, welches schon ungeduldig wartet. Bevor ich die Tür zumachen kann, schreit meine Mutter noch hinterher: „Wir werden dich vermissen!“ „Ist ja nur für eine Woche“, antworte ich lachend. Endlich ist die Tür zu, ich bin angeschnallt, der Motor wird gestartet und es kann richtig losgehen, denke ich mit einem leichten Lächeln. Dieses Lächeln vergeht mir, wenn ich auf die Taxiuhr gucke, welche schon seit der Verabschiedung mitläuft.

 

Kapitel 3

Mit letzter Kraft schieben Rachel und ich unsere Koffer durch die Hotelzimmertür und fallen direkt rückwärts auf unsere Boxspringbetten, welche mindestens die doppelte Höhe von meinem Bett haben.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, höre ich schon den Wasserhahn laufen. Mein Blick schweift von dem Zwei-Quadratmeter-Fernseher über zum Pflanzen dekorierten Balkon zu meinem Koffer. Er steht noch genauso da, wie ich ihn gestern Abend hinterlassen habe. Also fange ich an, ihn schon mal zu öffnen und ihn dort hinzulegen, wo man nicht mehr darüber fallen kann.

Wenig später sind Rachel und ich schon auf der Suche nach etwas Essbarem. Wir wandern durch die Altstadt und bleiben bei jedem Gebäude stehen, um davon Fotos zu machen. Sie sehen alle fast gleich aus und doch sind sie so individuell. Ich habe mich schon immer für Architektur interessiert und diese Art von Bau ist definitiv besonders. Später als geplant, sind wir dann doch in einem netten Café gelandet. Von außen sah es eher alt und heruntergekommen aus, aber von innen ist es modern und hell eingerichtet. Die Stühle und Bänke sind aus himmel- und marineblauem Samt und von der Decke hängen mehrere Glühbirnen mit einem warmen Licht.

Als Rachel endlich fertig mit dem Bewundern der Einrichtung war, fragte sie mich: „Wie geht es Regina eigentlich?“ Ich war nicht vorbereitet auf diese plötzliche Frage über meine Mutter. Ich machte meinen Mund auf, schloss ihn aber direkt wieder, weil ich erstmal meine Wörter sortieren musste. „Ich glaube, sie hat sich mit der Situation schon lange abgefunden. Ich meine diese Ausraster von meinem Vater kommen nicht oft vor, aber wahrscheinlich macht es das gerade schlimmer, wenn sie immer in Angst leben muss, wann der nächste Vorfall passiert.“ „Warum sagt ihr denn keinem was davon? Es gibt gute Hilfe für solche Sachen“, spricht Rachel aus, was ich mir jeden Tag denke. Jedoch weiß ich die Antwort darauf bereits. „Weil man auch schöne Momente mit ihm haben kann. Er ist trotzdem noch mein Vater und ihr Ehemann. Ich weiß, das ist keine wirkliche Begründung oder Rechtfertigung, aber so ist es“, kriege ich mit immer leiser werdender Stimme noch raus. Dann steht Rachel auf, geht um den Tisch herum und umarmt mich einfach, ohne ein weiteres Wort zu sagen. „Deine Umarmungen haben schon immer geholfen, jede noch so schlechte Situation, wenigsten ein bisschen besser zu machen“, sage ich mit einem leichten Lachen.

Anschließend gingen wir zum am Strand. Das Wasser ist so blau, wie wir es beide noch nie gesehen haben. Der Sand ist angenehm warm und es rennen keine schreienden Kinder um uns herum. Es ist einfach perfekt. Doch plötzlich setzt sich Rachel aufrecht hin und starrt hinter uns. „Was ist denn los?“, frage ich sie. Daraufhin flüstert sie aufgeregt „Dreh dich jetzt nicht um, aber da hinten sitzt jemand und schaut dich an.“ Natürlich drehe ich mich ruckartig nach hinten, nur um mich direkt wieder nach vorne zu drehen. „Sicher, dass er nicht dich anguckt?“, frage ich. „Ganz sicher!“, lacht sie. Irgendwie waren wir auffälliger, als wir dachten, denn auf einmal steht er auf und kommt auf uns zu. „Oh mein Gott! Sollen wir wegrennen?“. Doch Rachel schüttelt nur ihren Kopf. Sie kommt nicht mehr dazu irgendwas zu sagen, weil er schon hinter uns steht und sich räuspert. Eigentlich bin ich ein eher extrovertierter Mensch, doch jetzt traue ich mich noch nicht einmal, mich umzudrehen. Als ich es dann doch endlich schaffe, gucke ich ihn von oben bis unten an. Er sieht ungefähr 20 Jahre alt aus, genauso alt wie wir, er trägt eine weite Badehose mit Hawaiimuster und hat unordentliche, goldbraune Haare, welche wahrscheinlich mal ein Mittelscheitel waren. „Hey… ich heiße Ryle. Nicht, dass ich euch belausche, aber ich habe gehört, ihr sprecht deutsch, und ich dachte, ich komme mal zu euch“, sagt er mit einem unangenehmen Lacher am Ende. „Oh … ja … hallo“, schaffe ich gerade noch rauszubringen. Ich weiß nicht, warum ich gerade keinen vollständigen Satz hinkriege, also übernimmt Rachel das Sprechen: „Ich bin Rachel und das meine Freundin Romee.“ So ging dann das Gespräch weiter, welches sich angefühlte wie eine Minute, tatsächlich aber eine halbe Stunde lang war.

 

Kapitel 4

Seit dem Kennenlernen von Ryle sind schon vier Tage vergangen und wir haben uns bisher jeden Tag gesehen. Manchmal zu zweit und manchmal auch mit Rachel. Ich fühle mich irgendwie schlecht, dass ich nicht so viel Zeit mit ihr verbringe, da es eigentlich unser Urlaub war, doch sie meinte grinsend, dass sie es verstehen würde, warum ich so viel mit Ryle verbringen möchte.

Jetzt sind wir dabei, in das tiefblaue Meer zu gehen. Hinter uns eine grün bewachsene Felswand, die zu einem Berg gehört, und kein Mensch um uns herum. Man hört nur den Wind über das Wasser ziehen und den feinen Sand unter unseren Füßen wegkieseln. Ryle wollte mir heute Stand-Up-Paddeln beibringen.

„Also, du musst einfach nur draufstehen und dein Gleichgewicht halten.“

„Ich glaube nicht, dass es einfach ist“, antworte ich, schon vorahnend, dass ich tausendmal herunterfallen werde. „Ach, das schaffst du schon. Ich glaube an dich.“

Doch ich hatte Recht. Als wir wieder auf den Decken liegen, fühle ich mich immer noch schlecht, weil ich so viel Wasser geschluckt habe, obwohl hier sowieso schon Wasserknappheit herrscht. „War doch gar nicht so schlecht“, meint Ryle zu mir mit einem Grinsen. „Das sagst du doch nur, weil du mich überreden möchtest, nochmal mit dir Stand-Up zu paddeln!“ „Vielleicht – hat es geklappt?“, fragt er lachend. „Absolut nicht. Mein Mund riecht immer noch nach Alge.“ Jetzt sind wir beide am Lachen. Als wir damit fertig waren, gucken wir uns beide nur an, doch nach drei Sekunden unterbreche ich den Augenkontakt – dazu muss ich erwähnen, dass drei Sekunden Augenkontakt sich echt lange anfühlen. Ich habe keine Ahnung, wie die in Filmen hinbekommen, sich so lange in die Augen zu gucken, aber im echten Leben klappt das definitiv nicht. –

Wir haben echt denselben Humor, denke ich mir, bis mein Handy klingelt und ich sehe, dass es meine Mutter ist. „Das ist meine Mutter“, sage ich noch schnell und gehe etwas weg, so dass er nicht mithören kann.

Als ich nach einigen Minuten wiederkomme, war ich komplett weiß im Gesicht. Ich bringe kein einziges Wort raus und ich fühle mich, als würde ich mich jeden Moment übergeben. Ryle guckt mich nur mit großen Augen an. Dann fragt er, was denn passiert sei. Sobald er bemerkte, dass ich nicht in der Lage bin, mit ihm zu reden, steht er auf und umarmt mich. Meine Arme heben sich langsam und kraftlos, um sie auch um ihn zu legen. Ich lasse mich einfach fallen und wir sinken beide langsam zu Boden. Doch dann antworte ich endlich flüsternd: „Mein Vater ist gestorben.“ Jetzt ist er nicht mehr in der Lage zu reden. Das einzige, was Ryle sagt, ist, wie leid es ihm tut und das er bestimmt ein guter Mensch war. Dann sprudeln die Wörter nur so aus mir heraus und ich erzähle ihm die ganze Geschichte von meinem Vater und durch welche Hölle er meine Mutter und mich schon durchgeschickt hat. Zum Schluss füge ich noch hinzu: “Tut mir leid, dass ich dir gerade mein ganzes Leben erzählt hab. Du kannst mich das nächste Mal gerne unterbrechen.“ Ich weiß nicht, warum ich ihm alles erzählt habe, aber irgendwie vertraue ich ihm, so wie keinem anderen, auch wenn wir uns erst seit ein paar Tagen kennen. Keiner kennt so viele Details wie Ryle jetzt, noch nicht mal Rachel, meine beste Freundin seit dem Kindergarten. „Er war ein guter Mensch…“, bekräftige ich „…er hat nur schlimme Sachen getan.“ Dann breche ich komplett in Tränen aus. Ich merke nur noch wie ich Kopfscherzen kriege und dann irgendwann von meinen Tränen wieder aufwache, immer noch von ihm gehalten.

 

Kapitel 5

Das Ende vom Urlaub ist erreicht. Rachel sitzt neben mir im Flugzeug. „Die Woche ist anders verlaufen, als geplant“, sage ich. Damit meine ich nicht nur Ryle, sondern auch den Anruf von meiner Mutter. „Das kann man wohl sagen. Du und Ryle passen aber auch einfach perfekt zusammen.“, antwortet sie mit einem Grinsen. „Das ist das beste Kompliment, was ich jemals bekommen habe.“ Dann steckt Rachel ihre Nase und Aufmerksamkeit wieder in ihr Buch und ich auf mein Handydisplay, wo Ryles Nummer zu sehen ist. Hoffentlich sehen wir uns noch mal wieder.

 

Kapitel 6

Als ich vor meinem gelb angestrichenen Haus stand, ist meine Blase, in der ich mich befand, zerplatzt. Mein Vater ist wirklich gestorben. Er ist nicht mehr da und wird nie wiederkommen. Nie mehr. Ich komme mir so egoistisch vor. Ich war im Urlaub, hatte eine schöne Zeit mit Ryle und Rachel und hatte keinen einzigen, auch noch so winzigen Gedanken an meinen Vater. Und jetzt ist er nicht mehr da. Er wird mir gleich nicht die Tür aufmachen und ich werde ihm nichts von Ryle erzählen können, doch ich gebe mir einen Ruck und bereite mich darauf vor, gleich in das Haus reinzugehen, ohne sein Gesicht zu sehen. Ich drücke die Klingel und warte, bis die Tür sich öffnet. Ob meine Mutter gleich mit Tränen überflutetem Gesicht vor mir steht, oder vielleicht sogar erleichtert? Nichts von dem bewahrheitet sich. Die Tür geht auf und ich blicke in ein emotionsloses Gesicht meiner Mutter. Als sie mich sieht, zieht ein leichtes Lächeln über ihre Lippen. „Du bist wieder da“, sagt sie. Ich bin überfordert. Soll ich jetzt lächeln? Sie trösten? Aber sie scheint nicht mal traurig zu sein. Normalerweise bin ich sehr gut darin, im Emotionen lesen, aber hier lese ich gar nichts. Absolut nichts. Bevor mein Kopf vor lauter Gedanken und Unwissenheit platzt, frage ich sie einfach: „Wie geht es dir?“ Danach folgten noch tausende Entschuldigungen, wie leid es mir tut. Doch mein Kopf wird immer schwerer vor lauter Gedanken, die weiter reinströmten, wie Wasser, welches keinen anderen Weg hat als in meinen Kopf und dort keinen Ausweg mehr hat. Wieso entschuldige ich mich? Vielleicht ist sie gar nicht traurig, immerhin hat er ihr das Leben zur Hölle gemacht. Fragen über Fragen stellte ich mir in den wenigen Sekunden, bis sie antwortet: „Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung. Verzweifelt über meine Gefühle, die ich nicht zuordnen kann oder die vielleicht noch nicht mal vorhanden sind. Wütend darüber, dass ich es eben nicht weiß. Ich weiß nur, dass der Albtraum vorbei ist. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ein neuer beginnt.“ Ich bin zu sehr damit beschäftigt, ihre Wörter richtig aufzunehmen und zu analysieren, um antworten zu können. Dann umarme ich sie einfach. Damit ist meine Antwort getan: Ich unterstütze sie, egal was sie fühlt oder auch nicht fühlt. Ich verstehe sie und jeden Weg, den sie ab jetzt geht.

 

Kapitel 7

Es sind wenige Tage vergangen, nach meiner Ankunft zu Hause. Ich habe meiner Mutter noch nichts von meinen Erlebnissen aus dem Urlaub erzählt. Ich wollte ihr Zeit geben, mit ihrer Gefühlslage klarzukommen. Nicht nur sie, sondern auch ich musste mit meiner klarkommen. Klar, ich bin traurig, unfassbar traurig sogar. Er war mein Vater und er ist gestorben. Wie aus dem Nichts, war er plötzlich nicht mehr da, während ich tausende Kilometer entfernt war. Doch ich verspüre auch Erleichterung. Er hat meine Mutter geschlagen und uns damit immer in Angst leben lassen. Das ist endlich vorbei. Irgendwie fühle ich mich auch schlecht, dass ich nicht komplett um ich traure. Ein Teil von mir hat ihn immer gehasst. Ein anderer liebte ihn auch als Vater. Es war eine komplizierte Beziehung zwischen ihm und mir. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie sich meine Mutter immer gefühlt haben muss. Ich kann es irgendwie nachvollziehen, aber ganz genau werde ich es nie erfahren. So etwas kann man einfach nicht in Worte fassen. Jetzt denke ich aber, ist es an der Zeit, ihr von meinem Urlaub und vor allem von Ryle zu erzählen. Sie sitzt gerade am Esstisch und kümmert sich um den ganzen Papierkram, der nach seinem Tod erledigt werden muss. Als sie mich kommen hört, blickt sie auf. Ich sehe ihr an, dass sie mittlerweile mit der Situation klarkommt. „Störe ich dich? Ich kann auch wieder gehen.“ „Nein, alles gut. Eine kleine Ablenkung kann ich von dem ganzen hier gebrauchen“, sagt sie und deutete mit ihrem Blick über die ganzen Zettel und Papiere. Daraufhin fang ich an, über alles zu berichten. Von den schönen Häusern bis hin zum Meer, welches eine unvorstellbar schöne Farbe gehabt hat. Dann kam ich auch zum besten und schönsten Teil: Ryle. Während ich über ihn redete, kam es mir so vor, als wäre ich ganz woanders. An einem anderen Ort, nicht von irgendwelchen Kontoauszügen umringt und als wäre ich auch nicht in der Situation, in der gerade mein gewalttätiger Vater gestorben ist. Als ich fertig bin, lacht sie laut los. Aber nicht auslachend oder in einem negativen Sinn, sondern einfach voller Freude und positiven Gefühlen. „So wie sich es anhört, scheint er ja wirklich perfekt zu sein“, meint sie. “Ja, da hast du komplett recht”, denke ich mir, antworte aber nur mit einem Nicken und Lächeln, welches über meine Lippen zieht. Dann hörte sie langsam auf zu lachen und sagt mit einer ernsten Stimme: „Aber wenn er dich nur einmal schlecht behandeln sollte oder du deinen Vater in ihm wiedererkennst, bitte lass’ ihn einfach los. Nur zu deinem Besten. Sei nicht so dumm wie ich.“ „Ich verspreche es dir“, antworte ich und wir sind wieder in einer Umarmung gefangen.

Noch am selben Tag kriege ich eine Nachricht von Ryle.

„Hey, wie geht es dir?”

 

Kapitel 8

Es sind mittlerweile fünf Monate vergangen. Ich bin zu den Erkenntnissen gekommen:

Mit ihm hört sich Musik schöner an.

Blumen sehen bunter aus.

Horrorfilme sind spannender.

Perlen glänzen mehr.

Alles ist einfach besser, wenn man es mit Ryle zusammen erlebt.