Der Sommer, als ich mich zum ersten Mal verliebte und meine beste Freundin verschwand.
Der Sand unter meinen Füßen fühlt sich weich an. Die Stellen, auf die die Sonne zuletzt geschienen hatte, sind wärmer als die, die im Schatten liegen und anders als am Vormittag, als jeder versucht hatte, den heißen Sonnenstrahlen und dem, die Füße verbrennenden Sand, zu entkommen, gehen nun alle nah an den Dünen. Die untergehende Sonne taucht unsere Gruppe in ein warmes Licht. Rosa, Gelb und Orange vermischen sich zu einem einzigen Farbverlauf, der genauso leuchtend aussieht, wie sich mein Inneres anfühlt. Ohne überhaupt einen Versuch zu starten, weiß ich, dass meine Handykamera das Spektakel niemals aufnehmen könnte. Mein Blick schweift über die Silhouetten, die sich dunkel am Ende der Wasserbucht abzeichnen. Irgendwo bei der Gruppe läuft meine beste Freundin, die es mir hoffentlich verzeihen kann, dass ich meine Zeit nicht wie geplant mit ihr verbringe. Wie immer, wenn ich daran denke, plagen mich die Gewissensbisse. Aber ich will nicht darüber nachdenken. Ich will im Hier und Jetzt sein, glücklich, dass ich gefunden habe, wovon ich nicht wusste, dass ich es suchte. Wie, als könnte er meine Gedanken lesen, drückt Milo meine Hand. Ein Lächeln breitet sich in meinem Gesicht aus. Das erste Mal seit langem fühle ich mich wirklich frei. Lebendig und frei.
Es ist stockdunkel als wir uns auf den Weg zur Jugendherberge machen. Die Sterne funkeln und ich bilde mir ein, eine Sternschnuppe zu sehen. Leise murmele ich meinen Wunsch. Dass das Gefühl, was mich von innen wärmt, für immer bleiben soll. Noch ein letztes Mal atme ich den Geruch des Lagerfeuers und der Dünen ein, höre den Gesang der Vögel und das Gesumme aller möglichen Insekten, die unser warmes Feuer angezogen hatte. Dann treffen meine Füße auf den Holzsteg, der schon bald in Beton mündet. Unsere Fahrräder stehen noch an Ort und Stelle und mein hellblaues Hollandrad sticht aus dem dunklen Hintergrund hervor. Meinen Fahrradkorb schmücken unzählige Blumen und jedes Mal, wenn wir mit dem Fahrrad an einem neuen Ort halten, kommen neue dazu. Der Gedanke, wie Milo mir immer eine neue Blume pflückte, bringt mich zum Lächeln. Meine Schritte beschleunigend gehe ich zu meinem Fahrrad und beuge mich runter um an der dunkelblauen Kornblume zu riechen. Sie nimmt den Platz ganz in der Mitte ein und ist somit der Blickfang, den man als erstes wahrnimmt. Milo zieht noch eine zweite Kornblume aus seiner Jeanstasche hervor und steckt sie mir vorsichtig hinters Ohr. „Sie steht für Hoffnung.“ Jede Blume steht für ein anderes Gefühl.
Camilla dreht sich genervt zu uns um. „Kommt schon Leute. Wir kommen sonst zu spät zum Treffpunkt. Wie so ziemlich jedes Mal bisher.“ Sie sitzt schon auf ihrem Fahrrad, bereit loszufahren. Grinsend mache ich sie auf ihr Schloss aufmerksam. „Wenn du schnell bei der Jugendherberge ankommen willst, solltest du vielleicht erst dein Fahrradschloss öffnen.“ Irritiert schaut sich Camilla zu ihrem Hinterrad um. „Ach, verdammt. Kannst du mir den Fahrradschlüssel aus meiner Jackentasche holen?“, bittend blickt sie mich an. „Ja, sofort.“ Zuerst schließe ich mein eigenes Fahrrad auf und ein Klick sagt mir, dass Milo das Gleiche tut. Dann überbrücke ich die paar Schritte und greife in die Jackentasche von Camillas dünner Sommerjacke. „Also hier ist er nicht.“ Ich ziehe meine Hand wieder aus der Tasche, was schwierig ist, da sie eigentlich viel zu eng für meine Hände ist. „Sicher? Schau‘ noch mal.“ Die Taschen sind zwar so klein, dass ich mir ziemlich sicher bin, den Schlüssel nicht übersehen zu haben, trotzdem komme ich ihrer Bitte nach. „Nein, wirklich nichts, außer-“ – ich muss kurz schauen, was ich in meiner Hand halte – „Kaugummipapier.“ Schon angespannter steigt Camilla vom Rad und schaut selbst nach. Auch in ihrer hinteren Hosentasche ist nichts zu finden und langsam werde auch ich unruhig. „Denkst du, du hast den Schlüssel am Strand verloren?“ Unschlüssig dreht sich Camilla einmal um ihre eigene Achse. „Sucht ihr hier weiter, ich renne schnell zum Strand und schaue am Lagerfeuer nach.“, mischt sich jetzt auch Milo ein. „Oder du gehst, Camilla“, schlage ich vor und da sie genau weiß, wie wichtig mir die kurzen Momente sind, die ich alleine mit Milo verbringen kann, nickt sie zustimmend. „Na gut, ich beeile mich.“ Mit den Worten dreht sie sich um und verschwindet in der Dunkelheit.
Zum fünften Mal schaue ich schon auf die Uhr. Selbst wenn wir uns jetzt noch beeilen würden, wären wir zu spät an der Jugendherberge. Ich lehne mich seufzend an mein Fahrrad und mache mir langsam Sorgen. „So lange dauert das doch nicht, oder?“ Doch Milo bleibt verdächtig still. Auch er hat sich gegen sein Fahrrad gelehnt, wirkt aber deutlich entspannter als ich. „Sie wird wahrscheinlich einfach nur überall genau nachgucken wollen. Schließlich kommen wir hier sonst nie weg“, versucht er mich zu beruhigen, da Camilla schon fast 20 Minuten weg ist und der Weg zum Lagerfeuer nur etwa drei Minuten gedauert hatte. Fünf Minuten, dann schaue ich selbst nach, sage ich mir. Doch auch fünf Minuten später keine Camilla. Damit die Unruhe, die sich immer weiter in mir ausbreitet, verschwindet, stoße ich mich vom Fahrrad ab um mich selbst zu überzeugen, dass alles okay ist. „Ich schaue jetzt nach Camilla.“ Milo überlegt kurz, ob er auch mitkommen soll, dann nehme ich ihm die Entscheidung ab.
„Pass du auf unsere Sachen auf. Außerdem, falls unsere Leiter uns erreichen wollen, brauchen wir jemanden, der im Netz ist und ihnen antworten kann.“ „Alles klar, aber beeil dich. Wenn Camilla den Schlüssel noch nicht gefunden hat, dann kommt trotzdem wieder zurück, dann rufen wir jemanden an, der kann uns abholen.“ Ich nicke zustimmend. „Bis gleich.“ Dann mache ich mich auf den Weg, wieder zurück durch die Dünen, auf den wie leergefegten Strand. Kurz bleibe ich stehen, um nochmal den Ausblick auf mich wirken zu lassen. Der Sonnenuntergang war kaum zu übertrumpfen, aber der Mond, wie er das Wasser glitzern lässt, ist auch nicht schlecht. Wahrscheinlich war Camilla hier auch einmal stehen geblieben, um die Szene auf sich wirken zu lassen, sage ich mir. Beruhigter laufe ich den Holzsteg entlang und schon von weitem kann ich den Lagerfeuerplatz erkennen. Verlassen. Das Einzige, was sich bewegt, sind die kleinen Funken der glühenden Holzscheite, die noch langsam ausbrennen müssen. Davon überzeugt, dass mich die Lichter täuschen und Camilla dort irgendwo steht, laufe ich noch näher an den Feuerplatz. Nur noch zwanzig Meter Sand trennen mich und die Holzbänke, auf denen wir noch vor einer Stunde unsere Marshmallows gekaut haben. Ich sehe Camilla immer noch nicht und jetzt steigt mir die Angst in den Kopf. Wo sollte sie denn hin sein? Das erste Mal hebe ich meine Stimme und rufe ihren Namen. Sie klingt so zittrig, dass ich einen neuen Versuch starte. Der Ruf versickert in der klaren Nachtluft. Ohne Antwort. Bei jedem Geräusch zucke ich unbewusst zusammen, ob aus Angst oder weil ich auf ein Signal von Camilla warte. Der Bereich um das Lagerfeuer ist noch immer warm, aber darauf achte ich kaum. Mit meinen Augen suche ich nun auch den restlichen Strand ab. Nirgendwo kann ich Camilla entdecken. Ich knie auf dem Boden, weil mich irgendein absurder Gedanke dazu zwingt, überall, wo es möglich ist, nach Camilla zu suchen. Mit meinen Beinen rutsche ich über den Sand, die kleinen Sägespäne ignorierend, die mir in die Haut fahren. Neben dem ersten Ende der Holzbank blitzt etwas Silbernes auf. Ich weiß, ich brauche es nicht, trotzdem fahren meine Finger am Rand des Holzes entlang. Ich spüre den kleinen, kalten Gegenstand in meiner Hand und weiß, ohne hinzusehen, was es ist. Ganz langsam richte ich mich auf und versuche krampfhaft nicht darüber nachzudenken, was das bedeuten könnte. Ich halte meine Hand in mein Blickfeld und öffne sie. Der kleine silberne Schlüssel ist der Gleiche, der in meinem Fahrradschloss steckt, der Gleiche, den Camilla hätte suchen müssen. Der Gleiche, den sie sofort gefunden hätte, wäre sie überhaupt hier angekommen. Angst durchfährt mich und bohrt sich in meine Haut, wie kleine Nägel in eine Wand. Hektisch stehe ich auf und in meiner Panik schreie ich mehrere Male Camillas Namen. Die Rufe werden von den Wellen übertönt, die meinen, genau jetzt gegen die bedrohlichen Felswände brechen zu müssen. Meine Augen suchen nochmal den Strand ab und bleiben an Fußspuren in weiter Ferne hängen. Viel zu weit vom Lagerfeuer entfernt, um erkennen zu können, ob es meine eigenen waren, die von Milo und der Gruppe oder vielleicht doch die von Camilla. Ich renne los, stolpere im unebenen Sand und renne wieder los. Der Sand unter meinen Füßen ist lange nicht mehr so warm, wie noch vor ein paar Stunden und das Dünengras, das von allen Seiten hochwächst, umschlingt meine Beine, wie Arme, die nach meinem Körper greifen wollen. Die Geräusche, die ich eben noch als beruhigend empfunden habe, verspotten mich jetzt. Ich komme bei den Fußspuren an und obwohl ich am liebsten sofort weiterrennen würde, muss ich meinem Körper eine Pause geben. Eine kleine, nicht lange genug, damit das Adrenalin aus meinem Körper verschwinden kann, meine Beine zu zittern beginnen können und ich nicht mehr klar denken kann. Eine kleine. Mein Blick folgt den runden Abdrücken, die sich in gleichmäßigen Abständen immer wiederholen. Klein, rund und auf keinen Fall Abdrücke von einem Menschen. Viel eher von einem Tier. Einem Hund vielleicht, aber das ist mir gerade egal. Keine Spur von Camilla und ich merke, dass mir die Panik zu Kopf steigt. Meine Augen versuchen sich zu fokussieren. Auf einen Punkt. Auf irgendein Zeichen. Aber sie fliegen nur umher, ich kann nichts mehr klar erkennen. Ich sehe verschwommen, ich sehe gar nichts mehr. Nur das schwarze Meer, das so aussieht, als wolle es mich verschlingen. Das Schwarze Meer und eine Bewegung aus den Augenwinkeln, die mich aufmerksam machen lässt. Verschlingen… das Meer sieht so aus, als wolle es mich verschlingen. Meine Augen fahren über die Meeresoberfläche und versuchen den Grund ausfindig zu machen, der mich hochgeschreckt hatte. Da, wieder! Jetzt sehe ich, zwischen der unheimlichen, schwarzen Masse aus Wasser einen gelben Farbfleck der sich mit den Wellen auf und ab bewegt. Ich muss meine Gedanken ordnen und versuche mich darauf zu fokussieren, was Camilla den ganzen Tag getragen hat. Hatte sie nicht das Gelbe Top an, was ich ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Erst jetzt fällt mir auf, wie wenig ich mich heute auf Camilla konzentriert habe, dass ich noch nicht Mal genau sagen kann, was sie den ganzen Tag getragen hatte. Bevor mich die Schuldgefühle einholen können richte ich mich auf und laufe langsam den schäumenden Meer entgegen. Der unebene Sand erschwert mir meinen Weg und ich habe das Gefühl ich laufe schon Minuten und trotzdem kommt das Wasser nicht näher. Der gelbe Farbfleck taucht nur noch immer kürzer an der Oberfläche auf, was mich meine Schritte noch verschnellern lässt. Endlich spüre ich, wie meine Knöchel von den eiskalten Wellen umspült werden und meine Füße in den nachgebenden Sand einsinken. Trotzdem verlangsame ich meine Schritte nicht, sondern laufe soweit, das mich das Wasser an meiner Hüfte begrüßt. Meine Stoffhose klebt an mir, wie eine zweite Haut, sie verlangsamt das vorankommen und ich habe das Gefühl, sie will mich davon abhalten noch tiefer ins dunkle Etwas reinzuwaten. Doch die Wellen sind stärker, sie ziehen mich mit sich aufs offene Meer, sodass jetzt auch mein Bauch von Wasser umgeben ist. Eine nächste Welle kommt, die fast so hoch ist wie ich. Ich werde nach hinten geschleudert und plötzlich ist alles dunkel. Eiskaltes Wasser umgibt mich, und mit meinen Armen und Beinen versuche ich panisch an die Oberfläche zu gelangen. Als ich endlich wieder auftauche, schnappe ich hektisch nach Luft und versuche mich zu orientieren. Hinter mir höre ich Geschrei und Silhouetten erscheinen am Ufer. Neben mir schimmert etwas blaues. Eine blaue Kornblume. „Sie steht für Hoffnung…“