Ich sitze auf meinem Bett in meinem neuen Zimmer und starre gegen die weiße Wand. Ich möchte nicht hier sein. Ich wollte von Anfang an nicht hier her kommen. Und trotzdem sind meine Mutter und ich in diese winzige Wohnung im dreckigsten Viertel der Stadt gezogen.
Nachdem meine Mutter ihr Restaurant wegen Geldmangel durch Corona schließen musste, ging für uns alles bergab: Mein Vater verließ uns, zog mit der Tochter eines Millionärs nach Spanien und ließ nicht mehr von sich hören. Meine Mutter fand keinen guten Job und arbeitete deshalb als Putzfrau in Bürogebäuden.
Ich hatte immer hart gearbeitet und versucht auch etwas zu unserem Unterhalt bei zusteuern. Ich hatte die Tiere von Nachbarn gefüttert, hatte die Einkäufe für alte Leute erledigt, hatte Kindern Nachhilfe gegeben und morgens die Zeitung ausgetragen. Für unsere alte Wohnung war trotzdem nicht genug Geld da gewesen.
Seufzend erhebe ich mich und schlurfe in unsere winzige Küche, um mir etwas zu essen zu machen. Obwohl heute Heiligabend ist, wird meine Mutter wie immer lange auf der Arbeit bleiben. Ich koche also noch ein paar Spaghetti mehr, damit sie nach der Arbeit etwas Warmes zu essen hat.
Während die Spaghetti kochen, blicke ich aus dem Fenster auf die graue Häuserfront auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Diese Häuser sind sogar in einem noch schlechteren Zustand als das, in dem ich wohne. So weit ich weiß, sind sie auch größtenteils nicht bewohnt. Alle Fenster sind dunkel und bisher habe ich auch noch nie eine Person aus der Haustür gehen sehen.
Plötzlich entdecke ich jedoch etwas. Ein kleines Licht beleuchtet ein Fenster im Dachgeschoss des Hauses. Durch die schlecht geputzte Scheibe kann ich eine kleine Küche erkennen. Das warme Licht beleuchtet einige vollgestopfte Möbel aus dunklem Holz. Die Wände sind dunkelgrün gestrichen und in der Mitte steht ein großer Holztisch. An dem Tisch sitzen viele Leute. Mindestens vier Kinder und drei Erwachsene. Obwohl die Familie in dieser winzigen Wohnung zu leben scheint, sehen alle Leute glücklich aus. Sie lachen und unterhalten sich als wäre die Welt in Ordnung und nichts und niemand könnte das ändern.
Plötzlich dreht sich ein kleiner Junge um und blickt mich an. Ich erschrecke und möchte mich verstecken, doch es ist bereits zu spät. Der Junge sagt irgendetwas und schon stehen alle am Fenster. Die Kinder winken und auch die Erwachsenen lächeln mich an. Langsam hebe ich meine Hand zum Gruß, ringe mir ein Lächeln ab und möchte mich dann so schnell wie möglich vom Fenster und damit aus den Blickfeld dieser Familie entfernen, doch irgendetwas hält mich davon ab. Eine Bewegung. Eine nett aussehende Frau- ich denke mal es ist die Mutter- die eine täuschende Ähnlichkeit zu Molly Weasley hat, winkt mit ihrer Hand, als würde sie mich zu sich rufen. Unsicher blicke ich sie an, doch sie lächelt nur ein warmes Lächeln welches mein Herz in Sekundenschnelle schmelzen lässt. Noch einmal winkt sie, doch ich rühre mich nicht vom Fleck. Lädt diese Familie mich gerade ernsthaft dazu ein, mit ihr Weihnachten zu feiern? Kann ich das annehmen? Ich kenne diese Familie doch gar nicht und außerdem kommt meine Mutter bald von der Arbeit zurück. Da kann ich ja nicht einfach weg sein.
Ein Kind verschwindet auf einmal vom Fenster und taucht kurz später vor der Haustür wieder auf. Es läuft über die Straße zu unserer Haustür und schon ertönt die Klingel. Ich hechte in den Flur und drücke die Tür auf.
Es erklingen polternde Schritte, als der kleine Junge die Treppen hochstapft, und schon steht er grinsend vor mir. Seine roten Haare sind verwuschelt, er trägt eine Hose, die schon bessere Tage gesehen hat, abgewetzte Schuhe und eine vermutlich selbst gestrickte Strickjacke. Und trotzdem lacht er mich an, als gäbe es nichts Schöneres. „Willst du mit feiern?“, fragt er mich. „Äääähm… also…“, was soll ich denn jetzt sagen? Ich kann doch nicht einfach… „Ja, gerne!“ Ich schmeiße alle meine schlechten Gedanken über Bord und lasse den Jungen hinein. Schließlich hab auch ich mir ein schönes Weihnachtsfest verdient, und wenn meine Mutter kommt, sehe ich das ja durchs Fenster. „Ich bin übrigens Leon“, sagt der Junge, während er an mir vorbei und in die Wohnung flitzt. Schon kurz später höre ich von ihm begeisterte Ausrufe wie: „Boah, das ist ja voll cool hier!“, oder: „Was, du hast sogar ein eigenes Zimmer?“ Nachdenklich folge ich dem Geschrei des Kleinen in Richtung meines Zimmers. Kann es sein, dass ich doch nicht so schlecht dran bin, wie gedacht? Was, wenn ich viel zu empfindlich bin? Sollte ich nicht eigentlich dankbar sein, überhaupt eine Wohnung zu haben? Inzwischen bin ich bei Leon angekommen, der in der Mitte meines leeren Zimmers steht und sich begeistert umblickt. Lächelnd packe ich ihn an seine Schultern und lotse ihn zurück in den Flur. „Wir müssen gehen.“, sage ich sanft. „Wir wollen ja nicht, dass deine Eltern sich Sorgen machen.“ „Na gut.“, sagt der kleine Junge, den ich direkt lieb gewonnen habe, und zusammen machen wir und auf den Weg zu dem Haus gegenüber.
Je näher wir der Haustür jedoch kommen, desto langsamer werde ich. Kann ich jetzt wirklich einfach in den Raum platzen und mitfeiern als wäre das normal? Leon scheint meine Gedanken zu erraten, denn er greift nach meiner Hand und zieht mich einfach durch die offene Tür und die Treppen hinauf. Oben angekommen, stellt er sich auf die Zehenspitzen und drückt dreimal lange auf die Klingel. Nach einigen Sekunden erklingen polternde Schritte, und die Tür wird von einem etwa vierjährigem Mädchen aufgezogen, dass mich aus großen Augen anblickt. Ihre blonden Haare fallen ihr tief ins Gesicht und um ihren Mund herum ist etwas verteilt, das ganz verdächtig nach Schokolade aussieht. „Hallo“, sagt sie so leise, dass ich sie kaum verstehen kann. „Hi“, antwortete ich eben so leise und lächle sie an. Zögerlich lächelt das Mädchen zurück. „Das ist Anna-Lotta“, unterbricht Leon die Stille. „Am Anfang ist sie immer schüchtern, aber wenn man sie gut kennt, dann ist sie ein richtiger Wirbelwind.“ Anna-Lotta verschwindet jetzt in die Wohnung und wir folgen ihr. Der Flur ist nur spärlich beleuchtet und von den Wänden bröckelt der Putz ab. Am Ende des Flures kann ich jedoch das Licht erkennen, das warm durch einen Türspalt scheint. Aus dem Raum kann ich Stimmen und Gelächter hören. Leon zieht mich durch den Flur und stößt die Tür auf. Ich finde mich in dem Raum wieder, den ich schon von meinem Fenster aus sehen konnte. Sechs Augenpaare finden mich und blicken mich neugierig an. Ich sehe Anna-Lotta und zwei weitere Kinder, und wahrscheinlich ihre Eltern und Großeltern. Schüchtern winke ich in die Runde und werde von allen herzlich begrüßt und dazu eingeladen, mich zu ihnen zu setzen. Die ohnehin schon enge Runde rückt noch ein Stück zusammen und ich nehme neben einem Mädchen in etwa meinem Alter Platz, dass sich mir als Valerie vorstellt. „Hey Valerie!“, begrüße ich sie. „Ich bin Carlynn.“ „Hallo Carlynn“, begrüßt mich nun die Mutter, während sie mir den Teller mit allen möglichen Köstlichkeiten vollhäuft. „Ich bin Susie.“ Sich die. Anderen stellen sich mit nun vor, und ich finde sie sofort alle super nett. In Valerie kann ich vielleicht sogar eine gute Freundin finden. Nach unserer kleinen Vorstellungsrunde ist erst einmal nur ein einvernehmliches Schmatzen zu hören bis Susie schließlich die Stille unterbricht: „Willst du uns erzählen, was du an heilig Abend ganz alleine in deiner Wohnung machst?“, fragt sie mich und aus einem mir unterkenntlichem Grund beginne ich tatsächlich zu erzählen. Normalerweise erzähle ich niemandem von unserer privaten Situation, doch irgendwie vertraue ich dieser Familie vollkommen und fühle mich von ihnen verstanden. Als ich meine Erzählungen beendet habe, ist es erst für eine Weile still. Dann erhebt Richard, der Vater der Familie das Wort: „Sicher. Hast du dich schon gefragt, was eine so große Familie wie unsere in dieser winzigen Wohnung macht.“ Ich nicke und Richard spricht weiter: „Wir haben nicht immer hier gewohnt. Früher lebten wir unter ganz anderen Verhältnissen, doch als die Firma in der ich arbeitete, pleite ging, ging für uns alles bergab. Wir verloren viel Geld und mussten deshalb umziehen. Als Kleinkünstler verdiene ich auch nicht besonders viel Geld und wir kommen nur gerade so um die Runden. Für einen Neuanfang reicht das lange nicht. Susie kann auch nicht arbeiten, weil sie sich um die Kinder kümmern muss und so gibt es kaum einen Ausweg aus dieser Situation. Meine Eltern -Richard deutet auf das alte Ehepaar- das mit am Tisch sitzt. „Sind aber nur zu Besuch. Sie sind schon seit einigen Jahren im Heim, da wir nicht auf sie aufpassen können.“ Betroffen schaue ich in die Runde. Diese Familie ist in eine ausweglose Situation gerutscht, genau wie meine Mutter und ich, doch obwohl sie sogar noc schlechter dran sind als wir, sind sie alle so fröhlich, wie ich es sehr selten bin. Als hätte Valerie meine Gedanken gelesen, erklärt sie mir nun: „Trotz dieser Tatsachen haben wir erkannt, dass das Leben lebenswert ist, und man auch ohne das ganze Drumherum glücklich sein kann.“ Bewundernd blicke ich sie an. „Das habt ihr auch wunderbar hinbekommen. Eure Lebensfreude springt direkt auch einen über.“ Wir lachen.
Bald beginnen alle, sich über alles mögliche zu unterhalten. Hugo erzählt über ein lustiges Erlebnis aus seiner Schule, die Großeltern über ihre Vergangenheit und schnell wird die Stimmung ausgelassen. Plötzlich klingelt Richards Handy. Als er auf das Display guckt, springt er hektisch auf und flüstert aufgeregt: „Das ist ein potenzieller Kunde.“ Dann verlässt er eilig den Raum.
Kurze Zeit später kehrt er strahlend wieder zurück. „Was ist los?“, wollen alle sofort wissen. „Ich…“, setzt Richard an, doch seine Stimme bricht. „Der Kunde…“ versucht er es noch einmal, doch auch jetzt kann er seinen Satz nicht beenden. In seinen Augen stehen Tränen. An seinem Lächeln zu urteilen wahrscheinlich Freudentränen. „Der Kunde möchte mir ein Bild abkaufen.“, sagt er nun. „Und er bietet viel Geld dafür. Sehr, sehr viel Geld.“ „Wie viel genau?“ möchte Valerie wissen, und Richard strahlt sie an. „Genug für eine neue Wohnung, ein neues Auto, neue Klamotten und einen Neustart für uns alle.“
Fassungsloses Schweigen bricht über dem Raum hinein, alle beginnen zu jubeln, sich in die Arme zu fallen und Tränen zu vergießen. „Das muss ein Traum sein, das muss ein Traum sein..“, murmelt Susie immer wieder. Valerie sitzt einfach nur da und starrt fassungslos in die Luft. Die ganze Familie ist überglücklich und auch ich freue mich unglaublich für diese wundervollen Leute, die diese Chance auf einen Neuanfang mehr als nur verdient haben. Plötzlich klingelt mein Handy. Es ist meine Mutter, die fragt, wo ich bin. Sofort wird sie eingeladen auch rüberzukommen und mitzufeiern. Sie nimmt die Einladung an und verabschiedet sich mit den Worten, dass sie eine Überraschung für mich hat.
Als es klingelt und ich ihr die Tür öffne, fällt sie mir schwungvoll in die Arme. „Ich habe einen neuen Job!“, verkündet sie mit Tränen in den Augen. „Einen wunderbaren Job!“, steigen auch mir die Tränen in die Augen. Dieser deprimierende, traurige Tag ist innerhalb von wenigen Stunden zu einem der besten meines Lebens geworden. Nichts wird mehr so sein wie es war. Meine Mutter und ich werden uns ein neues Leben aufbauen, wir haben die wundervollste Familie kennengelernt, die es auf der Welt gibt und die heute Abend soga größeres Glück hat als wir. Was kann nicht besser laufen? Ich löse mich aus der Umarmung meiner Mutter und ziehe sie in die Küche, um sie meinen neuen Freunden vorzustellen, mit denen wir noch viele wunderbare Erinnerungen teilen werden.