Sofies Stern
Sofies Stern

Sofies Stern

Stille. Etwas, das Sofie lange nicht mehr vernommen hatte. Sie horchte, lediglich das Klackern der Schuhe auf dem nassen Kopfsteinpflaster der vorbeigehenden Menschen und der prasselnde Regen, der auf ihre Kapuze fiel. Sofie öffnete ihre Augen und wurde erschlagen von einem Lichtermeer. Alle Fenster waren hell erleuchtet und bunt geschmückt und über ihr hingen große, beleuchtete Sternschuppen. Ein süßlicher, fruchtiger Duft lag in der Luft. Es roch nach den Pyrizhky z Wyschnjamy ihrer Oma, nach ihrer Heimat, nach Odessa. Während sie sich vorstellte, die mit Kirschen gefüllten Buchteln ihrer Oma zu verspeisen, überkam sie eine wohlige Wärme. Es fühlte sich nach Zuhause an, obwohl ihr Zuhause 2500 km entfernt war. Sofie stand zwischen all den vielen Menschen, die in einer ihr fremden Sprache redeten und trotzdem sah sie die Freude in ihren Augen und freute sich mit ihnen. Sie schaute in den dunkelblauen, klaren Himmel, der mit strahlenden Punkten gesprenkelt war. Ein Stern stach ihr besonders ins Auge, ein heller roter Punkt am Himmel, so weit weg. Wenn man die Sterne betrachtete, kam die Welt und das Herrschen darüber einem so unvorstellbar klein vor, die Kriege, die durch Habgier ausgelöst wurden, so sinnlos. Und die Distanz von 2500 km, so kurz und doch eine andere Welt. Hier fröhliche bunte Stimmung, lautes Stimmengewirr, Weihnachtsstimmung. Dort lag ein Schatten über der Welt seit dem Angriffskrieg. Dort war ihr Bruder. Allein die Ungewissheit, ob ihr Bruder noch lebte, fühlte sich an, als würde sie alleine in der Dunkelheit stehen, verletzlich und angreifbar. Der Gedanke ließ Sofie frösteln, sie blickte wieder zum Himmel auf und betrachtete den roten Stern. Sie fragte sich, ob ihr Bruder gerade ebenfalls in den Himmel sah und unter den tausenden Lichtpunkten den roten Stern entdeckte.


Es war kalt, bitterkalt. Eine hauchfeine, glitzernde Schneeschicht bedeckte Straßen, umgekippte Panzer und Häuser bzw. das, was von ihnen noch übrig war. Inmitten der Trümmer, der Finsternis des Krieges, stand ein Junge, gerade einmal 18. Er trug eine dicke Jacke, Stiefel und ein Gewehr, etwas, das noch mehr Dunkelheit in diese sowieso schon düstere Zeit brachte. Der Junge, der dort so einsam in die Ferne schaute, halb erfroren, hieß Daniil. Sein Zuhause ein trübseliger Haufen Trümmer, seine Familie geteilt, Schwester und Mutter konnten dem Schatten entfliehen, sein Vater jedoch fiel dem Schatten zum Opfer, gefallen im Krieg neben ihm, Daniil erinnerte sich noch lebhaft an die letzten Worte seines Vaters und den Schnee, der sich blutrot färbte. Er kletterte auf einen umgekippten, schneeüberzogenen Panzer und schaute in eine unendliche Weite aus pechschwarzem Nichts und kleinen Punkten der Freude, den Sternen. Ein Stern stach Daniil besonders ins Auge, es war ein kleiner roter Stern, fast so rot wie der Schnee nach – sein Herz zog sich zusammen und er versuchte, den Gedanken schnellstmöglich zu verdrängen, ehe ihm noch Tränen über die Wangen liefen. „Bloß keine Schwäche zeigen“, sagte er zu sich, obwohl niemand in der Nähe war, der ihn hätte sehen können. Er dachte lieber daran, dass seine kleine Schwester, selbst wenn sie so weit weg war, vielleicht genau diesen Stern sah und an ihn dachte. Je länger Daniil den Stern ansah, desto mehr sah er es als eine Verbindung, wenn nicht sogar seine einzige Verbindung aus der Dunkelheit, denn die Sterne würden bleiben, die kann keiner erschießen. Trotz der eisigen Kälte und der großen Distanz wärmte der Gedanke, dass seine verbliebene Familie in Sicherheit war, es war, als würde der Hoffnungsschimmer, dass diese schmerzliche Trennung beendet werden würde, nach Monaten des erloschenen Seins wieder aufleuchten. Ein wärmendes, freudebringendes, strahlendes Gefühl bahnte sich seinen Weg durch die schwere Kälte der Finsternis.


Ein Schuss. Ein Schuss schnellte aus der Dunkelheit und traf Daniil. Es folgten weitere Schüsse, bis er am Boden lag und alles um ihn herum schwarz wurde. Die gerade aufkommende Freude, die die Dunkelheit erhellte, war mit einem Knopfdruck wieder erloschen.


Eine Woche später, es war mittlerweile der 23. Dezember, brütete Sofie über ihren Hausaufgaben, als ihre Mutter tränenüberströmt mit einem Brief in den Händen zu ihr kam. Sie wollte etwas sagen, doch sie konnte nicht, die Worte erstickten, bevor sie sie aussprechen konnte, sie reichte ihr den Brief. Sofie las nur „Daniil“ und „angeschossen“, dann ließ sie den Brief auf den Tisch fallen und ihre Gedanken begannen zu kreisen: „Nein! Nicht Daniil, nicht mein Bruder! Muss ich meine ganze Familie in der Dunkelheit des Krieges verlieren? Warum Daniil? Wozu der Krieg?“ Bis ihre Mutter auf ein entscheidendes Detail in dem Brief tippte.
Daniil lebt! Er wurde rechtzeitig gefunden und in ein Krankenhaus nach Deutschland gebracht, so wie viele andere schwerverletzte ukrainische Soldaten. Als Sofie diese Nachricht hörte, leuchtete wieder ein Licht, ein Hoffnungsschimmer in ihr. Ihr Bruder lebte, viel mehr noch, er war hier in Deutschland und sie durfte ihn morgen sogar sehen.
Es war noch dunkel, als sich Sofie mit ihrer Mutter am nächsten Morgen, dem Morgen des 24.Dezembers, auf den Weg zu ihrem Bruder machte. Das Erste, was Sofie vernahm, als sie mit ihrer Mutter das Krankenzimmer ihres Bruders und das eines weiteren ukrainische Soldaten betrat, war der sterile Duft des Krankenhauses, die eisernen Betten und ein schwacher Junge, übersät mit Wunden und Narben. Er lag dort wie ein Schatten seiner selbst, wie ein Umriss des alten Daniils. Die Monate im Krieg hatten ihn stark verändert und trotzdem erkannte Sofie ihn sofort. In seinen Augen sah sie Erschöpfung und doch auch einen Funken Licht, einen Funken Freude, als auch ihr Bruder sie erkannte. Es entflammte wieder Licht, Freude in ihm und trotzdem hatte der Krieg Spuren hinterlassen, er würde nie wieder ganz der alte Daniil werden. Daniil lächelte müde, nahm all seine Kraft und sagte: „Siehst du die unendliche Weite, dort hinter dem Fenster, die vielen kleinen Sterne, die Licht ins Dunkel bringen, auch in der dunkelsten Finsternis, auch während eines Krieges erhellen sie die Welt und bringen Freude. Sie bilden eine unzerstörbare Brücke, einmal um die Welt und lassen uns nicht vergessen, wie unglaublich klein wir sind und wie sinnlos es ist, Krieg zu beginnen.“

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