Oder: Wieso man lieber nicht in die Schule gehen sollte
Alles begann während des Chemieunterrichts. Ich hatte mein Buch in meinem Spind vergessen und musste deshalb noch einmal in unseren Klassenraum im zweiten Stock gehen, um es zu holen. Als ich gerade oben angekommen war, fing plötzlich etwas an, laut zu piepen.
Erschrocken schaute ich mich um und bemerkte, dass der Ton aus einem Lautsprecher über mir kam. Anhand der lauten Art des Piepens erkannte ich sofort, dass dies der Feuermelder war. In Panik brach ich aber nicht aus, als ich mich umdrehte, um die Treppen zurück zum Chemieraum herunterzustiefeln. Bestimmt handelte es sich nur um einen Probealarm. Wir hatten zwar erst vor ein paar Monaten einen gehabt, aber man wollte ja auch, dass er unerwartet kam.
Ich wusste was zu tun war und ging so schnell wie ich konnte zurück zum Chemieraum, um mit meiner Klasse auf den Schulhof zu gehen. Jedoch stieg mir schon auf der Treppe ein merkwürdiger, beißender Geruch in die Nase. Ein paar Schritte weiter wurde auch meine Sicht etwas verschleierter. Konnte es sein, dass das hier keine Probe, sondern tatsächlich ein echter Brand war? Etwas schneller ging ich weiter. Mit großen Schritten bog ich in den Flur des zweiten Stockes ein und bleib dort erschrocken stehen.
Von der anderen Seite des Ganges kam mir schwarzer Rauch entgegen. Kurz überlegte ich, ob ich mich durch den Rauch zu meiner Klasse wagen konnte, entschied mich aber dagegen. Ich war ja schließlich nicht lebensmüde. Schnell drehte ich mich um, um den anderen Weg aus der Schule zu nehmen. Auf dem Schulhof wollte ich schnell zu meiner Klasse gehen, und alles wäre gut. Doch leider war nichts gut.
Als ich gerade den ersten Stock erreicht hatte, hörte ich plötzlich ein Lautes Krachen. Funken stoben auf, und der Boden vibrierte, als die Decke des Flures vor mir brennend auf den Boden fiel. Mist! Der Weg zu den Treppen war nun versperrt. Wie sollte ich jetzt hier rauskommen?
Hektisch blickte ich mich um und sah die einzige Tür, die für mich nicht erreichbar war: die Tür zur Empore. Ohne viel nachzudenken, riss ich die Tür auf, schlüpfte in den dunklen Raum dahinter und schlug die Tür wieder zu. Schon hörte ich, wie dahinter etwas laut krachte – vermutlich der Rest der Decke.
Erschöpft nahm ich mir einen Moment, um mich auszuruhen und lehnte mich gegen die Tür. Dann stand ich auf und begann, die Empore nach einem Fluchtweg abzusuchen. Ein kurzer Blick in die Aula bestätigte mir, dass das Feuer sie noch nicht erreicht hatte. Wenn ich es unversehrt in die Aula schaffte, könnt ich von dort aus ganz leicht auf den Schulhof gelangen. Ich brauchte also nur noch etwas, dass mich sicher auf den einige Meter tieferen Boden brachte.
Als erstes probierte ich es bei den Vorhängen. Doch als ich daran zog, so fest ich konnte, machte der Stoff ein Geräusch, dass mir bewies, dass mich dieser Vorhang nicht heil nach unten bringen würde. Hektisch blickte ich mich nach etwas anderem um und entdeckte einige Kabel in der Ecke liegen. Mit drei Schritten war ich bei ihnen und griff mir mehrere, um sie zu einem stabilen Seil zu flechten.
Kaum hatte ich damit begonnen, hörte ich jedoch draußen einen lauten Knall. Ich drehte mich um und entdeckte, wie die Tür zur Empore langsam aus ihren Angeln kippte. Feuerzungen leckten an der Vertäfelung der Wand und bewegten sich in rasender Geschwindigkeit auf mich zu. Ich musste so schnell wie möglich hier weg. Mir zitternden Fingern flocht ich die Kabel weiter, bemerkte jedoch schnell, dass es zu wenige waren. Schnell rannte ich in die Ecke, in der die Kabel lagen und griff mir ein paar.
Als ich wieder aus der Ecke heraus gehen wollte, bemerkte ich jedoch, dass das nicht mehr möglich war. Das Feuer war inzwischen viel näher gekommen und versperrte mir den Weg zum Geländer der Empore. Panisch stellte ich fest, dass es aber keinen anderen Ausweg aus dieser schrecklichen Situation gab. Kalter Schweiß brach in mir aus. Würde ich hier sterben?
Das Feuer ließ sich von nichts aufhalten. Wie ein gefährliches Tier, das auf seine Beute lauerte, kam es immer näher. Ich wusste genau, dass ich die nächste Beute dieses grässlichen Ungetüms werden würde, und drängte mich noch tiefer in die Ecke. Ich war gefangen und würde in diesem Gefängnis untergehen.
Langsam wurde die Luft knapp Der Rauch brannte schmerzhaft in meiner Lunge und ich hielt mein T-Shirt vor Mund und Nase. Auch meine Augen taten höllisch weh und ich kniff sie so fest zu, wie ich konnte. Ich wollte nicht sehen, wie schnell mein Ende auf mich zu kam. Doch ich konnte es hören. Laut knackte das Feuer in meinen Ohren. Ich hörte Mauern einstürzen und Menschen schreien.
Verzweifelt presste ich meine Hände auf meine Ohren. Ich blendete alles um mich herum aus und schloss mich in meiner Gedankenwelt ein. Ich dachte an meine Eltern, meine Geschwister, meine Freunde, ja, sogar an meine Lehrer. Gedanklich verabschiedete ich mich von ihnen und dankte jedem Einzelnen von ihnen für alles, was sie je für mich getan hatten.
Nun war ich bereit zu sterben. Ich bereitete mich auf das Feuer vor, dass mich gleich umgeben würde, doch stattdessen gab der Boden unter mir nach. Der Boden der Empore war durch das Feuer so instabil geworden, dass er einfach unter meinem Gewicht wegbrach. Erschrocken riss ich meine Augen auf, nur um sie direkt wieder zuzukneifen. Ich befand mich im freien Fall, direkt auf dem Weg zum vier Meter tiefer gelegenen Aulaboden. Ein lauter Schrei entfuhr meiner Kehle, als ich hart auf dem Aula Boden aufschlug. Dann wurde alles schwarz.
Als ich meine Augen öffnete lag ich in einem Bett in einem hellen Zimmer. Wahrscheinlich ein Krankenhauszimmer. Ich trug einen weißen Kittel und an mir waren Geräte angeschlossen, die unaufhörlich piepten. Mein gesamter Körper schmerzte und – warte – mein Körper schmerzte. Das musste bedeuten, dass ich lebte! In diesem schrecklichen Moment auf der Empore war mein Leben gar nicht zu Ende gegangen. Ich hatte mein ganzes Leben noch vor mir.
Glücklich sah ich mich im Zimmer um und registrierte eine Frau neben dem Bett, die weinte. Beim zweiten Hinsehen erkannte ich, dass es meine Mutter war. Sie sah ganz anders aus als sonst. Sie trug verknitterte Klamotten, ihre Haare waren zerzaust und ihre Augen waren geschwollen vom Weinen. Langsam hob ich meine Hand und legte sie auf die ihre. Erschrocken hob meine Mutter ihren Blick. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie mich sah, und sie zog mich fest in ihre Arme. „Du bist wach!“, flüsterte sie immer wieder. „Ja! Ich bin am Leben“, entgegnete ich genauso leise und umarmte meine Mutter noch fester.
Von diesem Tag an lernte ich, jede einzelne Sekunde meines Lebens zu genießen. Denn ich wusste genau, es konnte jeden Moment vorbei sein.