An : Rosa Lynn
Von : Rosa Lynn
Betreff: Die Zukunft
Hallo Rosa,
ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll, deshalb fange ich mit dem an, was am wichtigsten ist. Zuerst möchte ich dir sagen, dass alles in diesem Brief sowohl essenziell als auch interessant und vielleicht sogar überlebenswichtig ist. Falls du denkst, dass ich irgendetwas, was in den folgenden Zeilen steht, nicht ernst meine, dann möchte ich dich daran erinnern, dass dieser Brief mein letzter Ausweg ist – und somit auch deiner.
Ich denke, du bist gerade verwirrt, und ich verstehe das. Denn ich wäre genauso verwirrt in deiner Situation. Ich weiß das, weil ich dich kenne und obwohl das banal klingt, weiß ich sogar, dass ich dich besser kenne als alle anderen Menschen, die gerade in deinem Umfeld sind. Ich denke, du lachst gerade, denn ich weiß, dass deine sarkastische Seite gerade denkt, dass du massiv verarscht wirst. Normalerweise ist das bei solchen Briefen auch so, da muss ich dir leider Recht geben. Doch ich bitte dich, bevor du diesen Brief jetzt zuklappst und für immer in die hintere Ecke mit all deinen anderen Schulsachen neben der verstaubten Schultonne aus der fünften Klasse wirfst, genau das zu überdenken, was du gerade gelesen hast. Ich denke, dir ist aufgefallen, wie genau ich diese Ecke mit deinen Schulsachen beschrieben habe? Sie ist immer unordentlich, obwohl du dir immer wieder sagst, dass du sie aufräumen musst, nicht wahr? Ich gebe zu, dass es bestimmt total gruselig ist, das zu lesen und zu wissen, dass alles, was dort gerade stand exakt der Wahrheit entsprach, aber bitte ruf‘ jetzt nicht die Polizei, ich schwöre dir, ich bin keine Stalkerin. Ich bin eher jemand, dem du sehr nahestehst, jemand, dem du einhundert Prozent vertrauen kannst, und ich hoffe, du schenkst mir dieses Vertrauen, egal wie sehr dein menschlicher Verstand dich bittet, es nicht zu tun. Aber seien wir ehrlich, niemand der dich hätte verarschen wollen, hätte sich die Mühe gemacht, einen Brief zu schreiben, geschweige denn einen, dessen Einleitung allein schon länger ist als die meisten deiner Klassenarbeiten. Die Antwort ist einfach, allerdings befürchte ich, dass sie viel zu schwer ist, um sie zu verstehen.
Hast du den Absender des Briefes gesehen? Rosa Lynn. Das bist du. Aber auch ich. Sogar als ich das hier schreibe, kommen mir die Zweifel, dass du jetzt überhaupt weiterliest, falls dieser Brief dich jemals erreicht, doch ich sage dir, jetzt wird es erst interessant und willst du ernsthaft die komplette, langweilige Einleitung gelesen haben, nur um nun nicht zu erfahren, wie es weitergeht? Ich weiß, dass du weiterlesen wirst, wenn auch nicht jetzt. Ich weiß, dass du es irgendwann tun wirst, auch wenn es dann schon zu spät sein könnte. Ich denke, es ist Zeit zu erklären, was hier vor sich geht, und es tut mir Leid so viel geschrieben zu haben, ohne auf den Punkt zu kommen, aber ich wollte sichergehen, sowohl deine Aufmerksamkeit als auch dein Vertrauen zu haben.
Um es einfach zu erklären, dieser Brief wurde verfasst am 9.8.2052 und du hast ihn am 9.7.2022 empfangen. Du bist also 14 Jahre alt, ich bin gerade 44 Jahre alt. Mein Name ist Rosa Lynn, deiner ebenfalls. Deine Eltern heißen Louis und Alicia. Falls du die Hinweise nicht verstanden hast, sage ich es dir nochmal klar, damit du es wirklich verstehst. Du und ich sind die gleiche Person, allerdings aus einer anderen Zeit, in anderen Lebenssituationen und mit anderen Freunden und Partnern, doch trotzdem die gleiche Person. Deshalb weiß ich so viel über dich, deshalb ist diese Handschrift exakt wie deine, mit nur ein Paar Abweichungen, die im Alter entstanden sind, wie zum Beispiel der hässliche Rechtsdrang der Buchstaben, der genauso aussieht wie der deiner Mutter und den du niemals übernehmen wolltest. Ich schreibe diesen Brief nämlich nicht zum Spaß, ich möchte, dass du weißt, dass dies wirklich der letzte Ausweg.
Die Zukunft, in der ich lebe, ist eine andere Welt, eine, die nicht voll von neuer Technologie ist und auch nicht voll von neuen politischen Denkweisen oder irgendetwas was, wir uns gewünscht hätten für diese Zukunft. Ich möchte nicht, dass du erschrickst und eventuell Angst bekommst, viele Dinge werde ich dir deshalb nicht erzählen, besonders keine Dinge aus deinem persönlichen Leben, da sie erheblichen Einfluss auf dich nehmen könnten und ich nicht möchte, dass dein Leben durch diesen Brief noch mehr verändert wird als nötig. Jedenfalls ist die Zukunft nicht so toll, wie du vielleicht denkst, ich kann spoilern: Die Reichen Menschen haben exakt so viel verändert an ihren Denkweisen wie in deiner Zeit auch. Nämlich exakt gar nichts, weshalb sich nicht wirklich etwas zum Besseren gewendet hat. Wir haben nur ein paar Flammenwerfer mehr auf der Erde und es wurden nicht nur Menschen ins All geschossen, sondern auch Autos und es sollte auch mit LKWs versucht werden, doch zum Glück hat eine schlaue Person die etwas Unterbelichteten davon abgehalten. Jedenfalls haben wir so ziemlich alles falsch gemacht, trotz jeglicher Aktivisten und Warnungen von Professoren und Wissenschaftlern. Ich möchte nicht lügen, die Erde ist in einem Zustand, der es schwierig macht, hier zu leben. Es gibt sogar Forschungen, ob andere Planeten für uns bewohnbar wären, doch ich denke nicht, dass dies zu etwas führen wird. Schließlich sind wir nicht in diesem Film Interstellar, und ehrlich gesagt haben wir alle mittlerweile ziemliche Angst und kaum Hoffnung. Es ist unglaublich heiß hier und dann wieder unglaublich kalt, wir können in manchen Monaten kaum rausgehen, denn wir sind einfach nicht geschaffen für so etwas. Es ist nicht so, als wären Aliens oder irgendeine andere Lebensform hier gelandet oder als würde ein Meteorit unseren Planeten in ein paar Tagen zerstören. Es ist eher so, dass der Zustand hier langsam und schleichend schlimmer wird, was noch viel gefährlicher und beängstigender ist, da du nie weißt, wie die Welt um dich herum aussieht, wenn du morgens aufwachst. An manchen Tagen merkst du gar keine Veränderung, an manchen allerdings fällt es dir dafür umso mehr auf. Die Luft ist erdrückend und es kommt dir so vor, als wäre kaum noch Sauerstoff in ihr vorhanden, es fühlt sich praktisch ungesund an, sie zu atmen. Dinge, die für dich jetzt noch selbstverständlich sind, sind jetzt gar nicht mehr denkbar, wie zum Beispiel rausgehen ohne einen dringlichen Anlass oder Wasser und Strom zu verwenden, ohne dass du es wirklich brauchst. Um es dir ehrlich zu sagen, ich denke nicht, dass wir noch viele Jahre in diesen Konditionen überleben werden und es sieht nicht so aus, als würden wir bald eine Lösung finden. Jetzt, wo wir alle dem Ende unserer Existenz ins Auge blicken, versucht jeder etwas zu tun, doch leider kam diese Erleuchtung, eventuell anzufangen, etwas zu verändern, für viele sehr viel zu spät. Es ist teilweise lustig zu sehen, welche Aktionen nun gestartet werden. Ich kann mich nicht davon abhalten, darüber zu lachen, obwohl eigentlich nichts mehr wirklich zum Lachen ist. Letztens erst kamen Leute wieder auf die Idee, sich vor einer Kirche zu versammeln und laut in den Himmel zu beten, obwohl sie Gott schon vor Jahren abgeschworen hatten. Das Beste war allerdings, als vor ein paar Wochen eine Gruppe von Leuten mit Antennen auf dem Kopf auf einen hohen Hügel in Österreich gestiegen sind, um Aliens anzufunken und um Einreiseerlaubnis zu bitten, falls wir diese Erde verlassen müssen und ein bewohnbarer Planet in der Nähe liegt. Das war ehrlich gesagt der Moment, in dem ich bemerkt habe, dass wir ziemlich aufgeschmissen sind, und da ich mich hilflos gefühlt habe, habe ich diesen Brief verfasst, egal ob er ankommt oder nicht, so habe ich zumindest das Gefühl, etwas versucht zu haben. Ich habe dir anbei Unterlagen von Forschungen geschickt, die durchgeführt wurden und unsere Erde retten könnten, wenn wir sie früher herausgefunden hätten. Ich habe die Hoffnung, dass du versuchen wirst, sie der Welt zu zeigen, egal wie und egal ob dir jemand glauben wird. Wenn du das tust, rettest du nicht nur dich, sondern die komplette Menschheit, du wärst sozusagen ein Held.
Ich hoffe daher, dass du mir vertraust – dass du dir vertraust – und dass du das Richtige tust. Ich weiß, du bist fähig dazu. Auch wenn ich weiß, wie komisch das klingt, und dass es nicht wirklich eine einfache Aufgabe ist. Doch wir können das. Du kannst dich retten, und damit alle anderen auch. Und falls du es nicht für dich tun willst, tu es für alle Menschen, die dir wichtig sind. Auch wenn es nicht funktionieren sollte, dann hast du es zumindest versucht – genau wie ich es jetzt mit diesem Brief versuche.
Ich glaube an dich Rosie
Dein Ich aus der Zukunft
Rosa Lynn