Brief einer Toten
Brief einer Toten

Brief einer Toten

Warnhinweis: Die folgende Geschichte beinhaltet Gewalt, Selbstmord etc. und kann verstörend wirken. Wir empfehlen die Geschichte ab einem Altern von 16 Jahren.

Aachen, den 30. März 2021                                                                                  

Betreff: Selbstmord

Die Tür zum Haus stand weit offen. Ich ging hinein und warf meine Schuhe an die Seite zum Schuhaufsteller und lief zum Esszimmer durch. Meine Mutter saß weinend am Tisch. „Hast du etwas zu essen Henriette?“, fragte ich sie. Sie schaute nicht auf. „Sei nicht so laut, sonst wird dein Vater wieder sauer.“ Ich schluckte und nahm mir einen Apfel. „Ich gehe Musik hören“, sagte ich leise, so dass sie es grade noch hörte. Erst jetzt schaute sie auf. „Schreibst du nicht bald einen Test? Dafür solltest du lernen.“ Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen geschwollen. An ihrer Schläfe war ein Kratzer. „Ich habe schon gestern den ganzen Tag gelernt“, beschwerte ich mich. „Du lernst jetzt“, zischte sie, ,,oder willst du genauso enden wie ich? Hausfrau ohne festes Einkommen.“ In diesem Moment fiel es ihr wieder ein. Sie verstummte. Ich auch. Als ich mein Zimmer betrat, überlegte ich, ob ich mich ihr widersetzen sollte, holte dann aber doch meine Hefte raus. Er wusste alles und ich würde niemals etwas ohne sein Wissen tun können.

Am nächsten Tag stand ich wie immer früher als alle anderen im Haus auf und verließ das Haus um sechs Uhr, bereit für die Schule. Einige Nachbarn schauten jeden Morgen interessiert von ihren ordentlich gewässerten Vorgärten zu mir. Sie dachten, sie wüssten alles, aber in Wirklichkeit wussten sie nichts. Ich lächelte und nickte, als ich an ihnen vorbei ging.

In der Schule befielen mich wieder die Kopfschmerzen. Mein Kopf fühlte sich schwer an und ich hatte das Gefühl, ich würde gleich einschlafen. Trotzdem beantwortete ich pflichtbewusst jede Frage, half den jüngeren Schüler*innen, sich zurechtzufinden, und blieb freundlich und lächelte. Die Kopfschmerzen wurden nicht besser, obwohl ich versuchte, sie zu ignorieren. Vielleicht sollte ich in den nächsten Tagen mehr als zwei Stunden schlafen. Nachmittags von der neunten bis zur elften Stunde hatte ich den Nähkurs. Früher war ich dort mit zwei Freunden gewesen, aber die beiden hatten nun andere Interessen. Wir hatten nun schon seit zwei Jahren nicht mehr Worte als „Hallo“ und „schönes Wochenende“ miteinander gewechselt. Meine Mutter sagte, ich sollte entweder in dem Kurs bleiben oder einen anderen Kurs finden, der mir gefällt, da es auf meinem Zeugnis gut aussieht. Aber in letzter Zeit machte mir nichts so wirklich Spaß. Ich lief zum Raum 308, aber in letzter Sekunde entschied ich mich, daran vorbeizugehen, und rannte los. Ich lief die Treppen drei Stufen auf einmal nehmend herunter. Ich eilte aus dem Schulgebäude, bedeckt; so dass niemand erkannte, dass die „ach so vorbildliche“ Schülerin die Schule trotz Arbeitsgemeinschaft verlässt. Ich lief, meine Beine lahmten. Meine Beine trugen mich automatisch nach Hause. Er würde wütend sein.

Als ich das Haus betrat, saß mein Vater am Tisch. „Warum bist du hier?“, fragte er. „Wo ist Henriette?“, sagte ich eingeschüchtert. „Antworte mir“, sagte er noch ruhig. „Der Kurs ist ausgefallen“, antwortete ich. „Auf dein Zimmer“, sagte er. Mein Vater wusste, dass ich log.

Spät in der Nacht, als ich überprüft hatte, dass meine Eltern schliefen, setzte ich meine Kopfhörer auf und machte meine Playlist an. Sofort entspannte ich mich. Japanische Musik aus den 80er-Jahren ist die beste Erfindung, die es jemals gegeben hat. Die Melodie war meist ruhig, aber der Gesang war dramatisch und interessant. Die Klänge erfüllten mich und ich seufzte. Manchmal stellte ich mir zu der Musik vor, ich wäre ein schönes Mädchen, was beliebt wäre, weil sie cool und lustig ist. Das gute Noten schrieb und eine tolle Familie mit mehreren Geschwistern hatte. Wunschdenken. Ich ging ins Badezimmer und stellte mich unter die Dusche. Das warme Wasser hatte eine angenehme Temperatur. Ich lächelte und hielt mein Gesicht in den warmen Duschstrahl.

In meinem Bett wälzte ich mich hin und her. Die Schule in der elften Klasse war schwer, im Unterricht hatte ich Schwierigkeiten mit dem aktuellen Stoff mitzukommen. Das könnte ich meinen Eltern natürlich niemals erzählen. Ich würde nicht mal mehr zum Nähkurs dürfen, der einzige Vorwand, an mindestens einem Tag der Woche nicht direkt nach Hause zu müssen. Ich hatte das Gefühl, die Leute dort, würden mich anstarren. Sie reden über mich. Darüber wie hässlich ich bin, und darüber, dass ich mich „einschleimte“ und keine Freunde hatte. Vielleicht sollte ich einfach verschwinden. Es würde mich sowieso niemand vermissen. Sie wären alle die besten Schauspieler, so wie immer: „Oh nein, ich bin entsetzt“ oder „Sie war so ein nettes Mädchen.“ In Wirklichkeit wären sie alle froh, ein Kind weniger, gegen das sie sich in der Klassenbestenliste durchsetzen mussten. Dort war der Hass gegen mich ganz besonders groß. Sie nannten mich „Schoßhündchen“ und „Streber“ – das nur, weil ich damals versucht hatte, in das Bild der guten Schülerin zu passen. Ich schrieb gute Noten, engagierte mich sozial und bekam so das Vertrauen der Lehrer. Auch als meine Noten sich nach der achten Klasse extrem verschlechterten, drückten sie immer ein Auge zu, wenn ich bewies, dass ich eigentlich genug gelernt hatte. Und so wurde ich in der neunten, zehnten und jetzt in der elften Schülersprecherin und versuchte, ein Vorbild für die jüngeren Schüler zu sein. Das kam irgendwie nicht so gut an.

Warum ich das aufschreibe? Damit ihr, meine Eltern, wisst wie scheiße es mir geht. Ihr habt mein Leben zerstört. Ich hasse euch, ich hatte so viel Spaß früher. Was ist nur passiert? Warum, warum? Sagt es mir. Ach nein – ich bin ja tot.

Achso? Ihr dachtet, es wäre schon zu Ende? Seit ihr denn nicht interessiert, was ihre Eltern damit zu tun haben?

Henriette knüllte den Brief zusammen und brach in Tränen aus. Die Polizisten, scheinbar genervt, fragten sie: „Was glauben Sie, was ihre Tochter damit gemeint hat? Sind sie an ihrem Selbstmord durch Erhängen Schuld?“ „N-Nein…“, stotterte sie. „es war … E-er…“ Und zum ersten Mal meldete sich ihr Vater zu Wort: „Sie ist selber Schuld. Was wissen wir davon, was in dem Kopf einer Kranken vorgeht?!“ Die Polizistin, die am Verhörtisch saß, schüttelte den Kopf. „Sie wissen schon, dass wir hier von Ihrer Tochter reden?“ Ihr Vater haute mit seiner geballten Faust auf dem Tisch: „Jemand, der etwas so Unehrenvolles tut, kann nicht meine Tochter genannt werden.“ Ein junger Polizist mit dem Namen „Bryson“, den die beiden Eltern schon vorher kennenlernen durften, stürmte in das Zimmer: „Das Kameramaterial wurde ausgewertet, Chef! Die Medienabteilung hat einen Zusammenschnitt aus den wichtigsten Momenten gemacht. Die Polizistin stand auf und gebot Bryson, sich zu setzen: „Ich werde mich unverzüglich auf den Weg machen, warten Sie bitte hier, oder möchten Sie mitkommen? Dann können sie uns vor Ort erklären, was dort passiert ist.“ Als die beiden keine Anstalten machten aufzustehen, ging die Polizistin aus dem Raum. Zügig betrat sie den Raum mit dem großen Bildschirm. Der Mann an der Konsole nickte ihr zu und drückte auf den Startknopf.

Im Schnelldurchlauf sah man 10 Jahre, in denen das junge Mädchen geschlagen, bestraft und verbal missbraucht wurde. Ihre Mutter ebenfalls. Der Vater kontrollierte sie, hatte mehrere Kameras in jedem Zimmer installiert und wenn etwas mal nicht nach Vorgaben verlief, wurde er handgreiflich. „Schlimm“, flüsterte ich schockiert und schüttelte den Kopf. In meinen vielen Jahren als Top-Kommissarin der Mordkommission Aachen Süd ist mir selten etwas so Schlimmes vor die Nase gekommen. Nun war es einigermaßen offensichtlich, was sie dazu getrieben hat. Ich hoffe das sie wenigstens im Nachleben ein wenig Ruhe findet.