Lily schlug die Augen auf und das Erste, was sie erkannte, war Licht. Lily blickte sich um. Wo war sie nur? Alles, was sie sah, war nur Licht. Sie schaute nach oben, unten, nach links und rechts. Aber alles nur Licht. Lily wusste nicht, was sie tun sollte. Alles war menschenleer. Ihr kam ein schrecklicher Gedanke hoch. Musste sie jetzt für immer hierbleiben? Lily fing an zu weinen. Diese Tränen hatte sie schon die ganze Zeit runtergeschluckt. Sie vermisste ihre Mama und ihren Papa. Sie vermisste alles in ihrem alten Leben. Lily schloss die Augen und ihr wurde klar, dass nichts mehr so war wie früher. In ihrem Kopf kamen die Bilder auf, die sie eigentlich für immer vergessen wollte. Nein, sie durfte nicht daran denken.
Aber obwohl sie es nicht wollte, sah sie vor ihrem Auge den Tag, an dem Lily in ihr Haus ging und auf einmal eine Explosion hörte. Als sie sich umdrehte, sah sie einen großen Pilz aus Feuer, Rauch, Schutt und Asche. Sie rannte zu ihrer Mutter, die mit tränenüberströmtem Gesicht im Wohnzimmer saß. Ihre Mutter flüsterte: „Russland hat die Ukraine angegriffen. Es ist Krieg.“ Lily fühlte sich, als hätte jemand ihr den Boden unter ihren Füßen weggerissen, sodass sie unaufhaltsam in die Tiefe fiel.
Von dem Tag an änderte sich für Lily alles. Ihr Vater musste zur Armee, sie mussten sich um ihre Sicherheit sorgen und irgendwann sagte ihre Mutter: „Lily, renn! Fort zu dem Schutzlager an der Stadtgrenze. Dort werden dich Leute in ein anderes, sicheres Land bringen. Ich werde dir irgendwann folgen, doch ich kann nicht ohne deinen Vater gehen.“ Lily wollte nicht. Es war das Letzte, was sie jemals irgendwann hätte tun wollen. Aber sie musste.
Lily öffnete die Augen. Sie merkte, wie sie zu weinen begann.
„Na, wer fängt denn hier an zu weinen? Heute solltest du lachen und dich freuen“, sagte plötzlich eine tiefe Stimme. Lily schreckte zurück. Sie sah eine Gestalt mit langem Bart und roten Anzug auf sie zukommen. Irgendwie kam ihr dieser Mann vertraut vor. War das etwa… „Santa Claus? Bist du das?“, hauchte Lily. Der Mann lachte: Na klar!“ Bevor Lily irgendetwas sagen konnte, sagte er: „Lily, hör mir zu. Bevor ich dir irgendetwas sagen kann, muss ich dir eine Frage stellen: Woran erinnert dich der ganze Raum hier?“ Lily blickte ratlos in seine freundlichen braunen Augen. Woran sie das hier erinnert? Lily blickte sich um. Hier war alles nur Licht. Sie wusste nicht, was das sein soll. Plötzlich fiel es ihr ein „Hier sieht es ein bisschen so aus, wie ich mir in meiner Fantasie einen Stern von innen vorstellen würde“, sagte sie ratlos. „Du hast recht! Das hier ist das Innere von einem Stern. Aber weißt du, welcher Stern das überhaupt ist?“, sagte Santa mit einem Lächeln im Gesicht. Lily überlegte. Aber sie kam nicht drauf. Als sie es schließlich wieder herausfand, wäre sie in Ohnmacht gefallen. Sie musste ihre ganze Kraft hervorbringen, um zu sagen: „Santa, bin ich ein Stern?“ Santa nickte. „Aber wie? Bin ich tot?“, fragte Lily verzweifelt. „Mein liebes Kind, natürlich bist du nicht tot. Du hast nur deine Lebensweise geändert. Lily, du hast eine Aufgabe.“ Lily hauchte: „Welche denn?“ „An Weihnachten, Hoffnung und Liebe zu schenken. Und das überall. Die Menschen brauchen zur Zeit sehr viel Hoffnung, und da du diejenige bist, die Liebe für die ganze Welt hat, sollst du nun der Hoffnungsschimmer derjenigen sein, die gerade keine Liebe um sich herum haben.“ Lily nickte. Trotzdem verstand sie nicht. Träumte sie gerade? Sie kniff sich. Nein, sie war wach. Dann war es also wahr. Aber ihr wurde was Schreckliches klar… „Meine Eltern“, schluchzte sie. Tränen kullerten heiß über ihre Wangen. „Lily, sei unbesorgt. Ich habe deine Mutter informiert und sie wird es deinem Vater erzählen. Sie ist sehr stolz auf dich. Und natürlich kannst du sie wiedersehen. Wenn du nur fest daran denkst, dann wirst du zu ihr geführt und ihr könnt miteinander alles tun, was ihr wollt. Sie sieht dich nicht als Stern, sondern als ganz normales Mädchen. Ich muss dir aber sagen, dass deine Mutter in Deutschland ist. Dort, wo sie sicher ist. Und was deinen Vater angeht, ich werde ihn beschützen. Okay?“ Lily nickte und lächelte. Sie musste unbesorgt bleiben. Santa blickte auf seine scharlachrote Uhr: „Los. Du musst deine Aufgabe erledigen.“ Lily nickte und versuchte nicht, nervös auszusehen. Es funktionierte nicht, weil Lily eine Sache nicht wusste. „Moment, wie und wo soll ich denn Hoffnung schenken?“, fragte Lily ratlos. Doch Santa war verschwunden. Was jetzt? Doch plötzlich fiel ihr es ein. Ganz fest dachte sie an ihre Heimatstadt Kiew. Und sofort spürte sie, wie sie nach vorn geschubst wurde und sie plötzlich vor vielen Häuser stand. Lily musste schnellstmöglich an den Ort, an dem die Hoffnung am kleinsten ist.
Lily blickte auf das Schlachtfeld. Die Soldaten waren so in den Kampf vertieft, dass sie gar nicht bemerkten, wie ein leuchtender Stern über ihnen flog und sie beobachtete. Was konnte Lily für sie tun. Sie dachte nach und endlich fiel es ihr ein. Lily dachte fest an Hoffnung. Und plötzlich fing es an zu regnen. Aber nicht Wasser, sondern Funken. Funken der Hoffnung. Funken, die aus Lilys innerer Liebe für alle Menschen dieser Welt entstanden. Sie fielen glitzernd auf die schockierten Soldaten herab. Es war, als würden sie aus einer Starre erwachen und endlich wieder Liebe um sich herum spüren. Die Soldaten fingen an zu lachen. Sie fassten sich an den Händen und tanzten. Ihnen wurde klar, dass heute der schönste Tag des Jahres war. Weihnachten. Sie lachten und sangen und vergaßen ihre Aufgabe zu kämpfen. Lily freute sich, diese glücklichen Soldaten zu sehen. Sie lachte und leuchtete deshalb umso mehr. Das bemerkten auch die Soldaten. Sie sahen hoch zu Lily und staunten. Lily lächelte und verschwand. Es gab noch mehr Teile der Erde, die auch hoffnungslos waren, und diesen musste Lily auch helfen. Weil Lily verschwand, verschwand auch der Funkenregen, doch die letzten Funken, die zu Boden fielen, wurden zu Geschenken und einem großen, geschmückten Weihnachtsbaum. Lily war die Hoffnung aller. Sie war das Mädchen, das zu einem Stern geworden war.